Harry Potter und der Orden des Phönix
zerschmettern, ihn schütteln, ihm wehtun, ihn einen winzigen Teil des Grauens in ihm spüren lassen.
»O doch, das tust du«, sagte Dumbledore noch ruhiger. »Du hast jetzt deine Mutter, deinen Vater und den Menschen, der einem Vater am nächsten kam, verloren. Natürlich ist es dir nicht egal.«
» SIE WISSEN NICHT, WIE ICH MICH FÜHLE !«, brüllte Harry. » SIE – STEHEN DA – SIE –«
Doch Worte waren nicht mehr genug, Dinge zerstören half nicht mehr; er wollte rennen, er wollte immer weiter rennen und nie zurückblicken, er wollte irgendwo sein, wo er die klaren blauen Augen nicht sehen konnte, die ihn anstarrten, dieses verhasste ruhige alte Gesicht. Er rannte zur Tür, packte erneut den Knauf und rüttelte daran.
Doch die Tür ging nicht auf.
Harry drehte sich wieder zu Dumbledore um.
»Lassen Sie mich raus«, sagte er. Er zitterte am ganzen Körper.
»Nein«, sagte Dumbledore schlicht.
Ein paar Sekunden lang starrten sie einander an.
»Lassen Sie mich raus«, sagte Harry abermals.
»Nein«, wiederholte Dumbledore.
»Wenn nicht – wenn Sie mich hier festhalten – wenn Sie mich nicht rauslassen –«
»Nur zu, zerstöre weiter, was ich besitze«, sagte Dumbledore gelassen. »Ich würde sagen, es ist ohnehin zu viel.«
Er ging um seinen Schreibtisch herum, setzte sich hinter ihn und musterte Harry.
»Lassen Sie mich raus«, sagte Harry noch einmal, mit einer Stimme, die kalt und fast so ruhig war wie die Dumbledores.
»Nicht ehe ich gesagt habe, was ich sagen will«, antwortete Dumbledore.
»Glauben Sie – glauben Sie, ich will – glauben Sie, es würde auch nur einen – ES IST MIR EGAL, WAS SIE ZU SAGEN HABEN !«, brüllte Harry. »Ich will nichts von dem hören, was Sie zu sagen haben!«
»Du wirst es«, sagte Dumbledore mit fester Stimme. »Weil du nicht annähernd so zornig auf mich bist, wie du sein solltest. Wenn du mich angreifen solltest, und ich weiß, du bist drauf und dran es zu tun, dann möchte ich es auch gründlich verdient haben.«
»Wovon reden Sie –?«
»Es ist meine Schuld, dass Sirius gestorben ist«, sagte Dumbledore klar. »Oder sollte ich sagen, fast gänzlich meine Schuld – ich möchte nicht so hochmütig sein und die Verantwortung für alles beanspruchen. Sirius war ein mutiger, kluger und tatkräftiger Mann, und solche Männer sind meist nicht damit zufrieden, zu Hause versteckt zu hocken, während sie glauben, dass andere in Gefahr sind. Dennoch, du hättest nie auch nur einen Moment lang glauben dürfen, es gäbe irgendeine Notwendigkeit für dich, heute Nacht in die Mysteriumsabteilung zu gehen. Wenn ich offen zu dir gewesen wäre, Harry, wie ich es hätte sein sollen, hättest du schon vor langer Zeit erfahren, dass Voldemort womöglich versuchen würde, dich in die Mysteriumsabteilung zu locken, und man hätte dich nie überlisten können, heute Nacht dort hinzugehen. Und Sirius hätte dir nicht folgen müssen. Diese Schuld liegt bei mir, und bei mir allein.«
Harry stand immer noch da, die Hand auf dem Türknauf, ohne sich dessen bewusst zu sein. Mit angehaltenem Atem blickte er unverwandt auf Dumbledore, lauschte und begriff doch kaum, was er hörte.
»Bitte setz dich«, sagte Dumbledore. Es war kein Befehl, es war ein Wunsch.
Harry zögerte, dann ging er langsam durch den Raum, der nun mit silbernen Rädchen und Holzsplittern übersät war, und nahm vor Dumbledores Schreibtisch Platz.
»Habe ich das richtig verstanden«, sagte links von Harry Phineas Nigellus mit langsamer Stimme, »dass mein Ururenkel – der Letzte der Blacks – tot ist?«
»Ja, Phineas«, sagte Dumbledore.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Phineas schroff.
Harry wandte den Kopf und sah gerade noch, wie Phineas aus seinem Porträt schritt, und er wusste, dass er sein anderes Gemälde am Grimmauldplatz besuchen gegangen war. Vielleicht würde er von Porträt zu Porträt laufen und im ganzen Haus nach Sirius rufen …
»Harry, ich schulde dir eine Erklärung«, sagte Dumbledore. »Eine Erklärung zu den Fehlern eines alten Mannes. Denn ich sehe jetzt, dass das, was ich im Hinblick auf dich getan und nicht getan habe, alle Merkmale der Schwächen des Alters trägt. Die Jugend kann nicht wissen, wie das Alter denkt und fühlt. Aber alte Menschen machen sich schuldig, wenn sie vergessen, was es hieß, jung zu sein … und wie es scheint, habe ich es in jüngster Zeit vergessen …«
Die Sonne ging jetzt richtig auf; über den Bergen lag ein Band aus blendendem Orange und
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