Harry Potter und die Heiligtümer des Todes
verbarg.
Und er setzte seinen Weg fort, am Ufer des Sees entlang, und betrachtete die Umrisse des geliebten Schlosses, seines ersten Königreichs, seines wahren Erbes …
Und hier stand es, am See, gespiegelt in dem dunklen Wasser. Das weiße Marmorgrabmal, ein unnötiger Schandfleck in der vertrauten Landschaft. Wieder spürte er, wie jene gemessene Euphorie ihn durchflutete, jenes berauschende Gefühl der Entschlossenheit, zu zerstören. Er hob seinen alten Zauberstab aus Eibenholz empor: Wie passend, dass dies die letzte große Tat des Stabs sein würde.
Das Grabmal riss von oben bis unten auf. Die in ein Leichentuch gehüllte Gestalt war so lang und dünn, wie sie es zu Lebzeiten gewesen war. Abermals hob er den Zauberstab.
Das Tuch fiel ab. Das Gesicht war durchscheinend, fahl, eingesunken, doch fast vollkommen erhalten. Sie hatten seine Brille auf der Hakennase gelassen: Er verspürte höhnisches Vergnügen. Dumbledores Hände waren auf seiner Brust gefaltet, und da lag er, unter den Fingern, mit ihm begraben.
Hatte der alte Narr sich eingebildet, dass Marmor oder der Tod den Zauberstab schützen würden? Hatte er gedacht, dass der Dunkle Lord Angst davor hätte, sein Grab zu schänden? Die spinnenartige Hand stieß hinab und zog den Zauberstab aus Dumbledores Griff, und als er ihn nahm, sprühte ein Funkenschauer aus seiner Spitze und warf funkelndes Licht über den Leichnam seines letzten Besitzers, bereit, endlich einem neuen Herrn zu dienen.
Shell Cottage
Bills und Fleurs Haus, in dessen weiß getünchte Mauern Muschelschalen eingelassen waren, stand allein auf einer Klippe über dem Meer. Es war ein einsamer und schöner Ort. Wo immer auch Harry in dem kleinen Haus oder seinem Garten hinkam, konnte er das stetige Wogen der See hören wie die Atemzüge eines großen schlummernden Tieres. In den nächsten Tagen verbrachte er viel Zeit damit, sich Ausreden einfallen zu lassen, um dem überfüllten Haus zu entfliehen, denn er sehnte sich nach dem Blick von der Klippe über den freien Himmel und das weite, einsame Meer, und nach dem Gefühl von kaltem, salzigem Wind auf seinem Gesicht.
Seine ungeheure Entscheidung, Voldemort allein nach dem Zauberstab jagen zu lassen, machte Harry immer noch Angst. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals beschlossen hätte, nicht zu handeln. Er steckte voller Zweifel, und diese Zweifel brachte Ron unweigerlich zur Sprache, wann immer sie zusammen waren.
»Und wenn Dumbledore wollte, dass wir das Symbol rechtzeitig entschlüsseln, um an den Zauberstab zu kommen?«, »Vielleicht hat man sich die Heiligtümer ›verdient‹, wenn man das Symbol entschlüsselt?«, »Harry, wenn das wirklich der Elderstab ist, wie zum Teufel sollen wir dann Du-weißt-schon-wen erledigen?«
Harry wusste keine Antworten: Es gab Momente, in denen er sich fragte, ob es heller Wahnsinn gewesen war, nicht den Versuch zu unternehmen, Voldemort daran zu hindern, das Grabmal aufzubrechen. Er war sich nicht einmal so recht im Klaren, warum er sich dagegen entschieden hatte: Jedes Mal, wenn er versuchte, seine eigenen Argumente nachzuvollziehen, die zu dieser Entscheidung geführt hatten, kamen sie ihm schwächer vor.
Das Komische war, dass Hermines Unterstützung ihn genauso durcheinanderbrachte wie Rons Zweifel. Sie war nun gezwungen hinzunehmen, dass der Elderstab tatsächlich existierte, behauptete aber, dass es sich dabei um etwas Böses handle und dass die Art und Weise, wie Voldemort ihn sich verschafft hatte, widerwärtig und völlig indiskutabel sei.
»Das hättest du niemals über dich gebracht, Harry«, sagte sie immer wieder. »Du hättest nicht in Dumbledores Grab eindringen können.«
Aber der Gedanke an Dumbledores Leichnam ängstigte Harry viel weniger als die Möglichkeit, dass er die Absichten des lebenden Dumbledore vielleicht falsch verstanden hatte. Er hatte das Gefühl, nach wie vor im Dunkeln zu tappen; er hatte sich für seinen Weg entschieden, blickte jedoch ständig zurück und fragte sich, ob er die Zeichen falsch gedeutet hatte, ob er nicht die andere Richtung hätte nehmen sollen. Bisweilen erfasste ihn wieder die Wut auf Dumbledore, mächtig wie die Wellen, die unter dem Haus gegen die Klippe schlugen, die Wut darüber, dass Dumbledore vor seinem Tod nicht alles erklärt hatte.
»Aber ist er tot?«, fragte Ron, drei Tage nachdem sie in Shell Cottage angekommen waren. Harry hatte gerade hinausgestarrt, über die Mauer hinweg, die den Garten des Hauses von der
Weitere Kostenlose Bücher