Harry Potter und die Kammer des Schreckens
Verbeugung herein.
Ein unglaublicher Anblick bot sich ihnen. Der Kerker war voll mit hunderten perlweißer, durchscheinender Gestalten. Die meisten schwebten dicht gedrängt über einem Tanzboden und walzten zu dem fürchterlichen Kreischen von dreißig Musiksägen eines Orchesters, das auf einer schwarz bespannten Bühne spielte. Über ihnen verströmten weitere tausend Kerzen auf einem Kronleuchter mitternachtsblaues Licht. Ihr Atem stieg als Nebelwolke vor ihnen auf; es war, als würden sie einen Eisschrank betreten.
»Sollen wir uns ein wenig umsehen?«, schlug Harry vor; er musste nämlich dringend seine Füße aufwärmen.
»Passt auf, dass ihr durch keinen hindurchgeht«, sagte Ron nervös und sie machten sich auf den Weg um die Tanzfläche. Sie kamen an einer Gruppe düsterer Nonnen vorbei, an einem zerlumpten und mit Ketten gefesselten Mann und an dem Fetten Mönch, einem gut gelaunten Geist aus dem Hause Hufflepuff, der in ein Gespräch mit einem Ritter vertieft war, aus dessen Stirn ein Pfeil ragte. Harry erkannte auch den Blutigen Baron, einen ausgemergelten, stierenden Slytherin-Geist voll silberner Blutflecke, und es wunderte ihn nicht, dass die anderen Geister einen weiten Bogen um ihn schlugen.
»O nein«, sagte Hermine und blieb schlagartig stehen. »Umdrehen, umdrehen, ich will nicht mit der Maulenden Myrte sprechen –«
»Mit wem?«, sagte Harry, während sie rasch kehrtmachten.
»Sie spukt in der Mädchentoilette im ersten Stock herum«, sagte Hermine.
»Sie spukt in einem Klo herum?«
»Ja. War fast das ganze Jahr über geschlossen, weil sie ständig Anfälle hat und alles unter Wasser setzt. Ich bin da sowieso nicht hingegangen, wenn ich’s vermeiden konnte, es ist bescheuert, wenn du aufs Klo gehen willst und sie jammert dich voll –«
»Seht mal, da gibt’s was zu essen!«, sagte Ron.
Auf der anderen Seite des Kerkers stand ein langer Tisch, ebenfalls mit schwarzem Samt bedeckt. Hungrig traten sie näher, doch nach ein paar Schritten blieben sie entsetzt stehen. Der Gestank war Ekel erregend. Auf schönen Silberplatten lagen riesige verdorbene Fische, rabenschwarze verbrannte Kuchen häuften sich auf Tellern; es gab große Mengen Schafsinnereien, auf denen sich fröhlich Maden tummelten, einen Käselaib, überzogen mit flaumigem grünem Moder und, der Stolz der Küche, einen gewaltigen grauen Kuchen in der Form eines Grabsteins, verziert mit einer Art Teer, der die Worte bildete:
S IR N ICHOLAS DE M IMSY -P ORPINGTON
gestorben am 31. Oktober 1492
Harry sah erstaunt zu, wie ein fülliger Geist sich dem Tisch näherte, in die Knie ging und mit offenem Mund durch einen stinkenden Lachs watschelte.
»Können Sie es schmecken, wenn Sie hindurchgehen?«, fragte ihn Harry.
»Beinahe«, sagte der Geist traurig und entschwebte.
»Ich denke mal, sie lassen es verrotten, damit es einen stärkeren Geschmack annimmt«, wusste Hermine beizutragen, kniff sich die Nase zu und beugte sich vor, um die verwesenden Innereien zu begutachten.
»Lasst uns gehen, mir ist schlecht«, sagte Ron.
Kaum hatten sie sich umgedreht, huschte ein kleiner Mann unter dem Tisch hervor und schwebte ihnen in den Weg.
»Hallo, Peeves«, sagte Harry behutsam.
Im Gegensatz zu den Geistern um sie herum war Peeves, der Poltergeist, überhaupt nicht blass und durchscheinend. Er trug einen hellorange Papierhut, eine sich drehende Fliege und grinste arglistig über das ganze breite Gesicht.
»Was zu knabbern?«, sagte er schmeichlerisch und bot ihnen eine Schale mit pilzüberwucherten Erdnüssen an.
»Nein danke«, sagte Hermine.
»Hab gehört, wie ihr über die arme Myrte gesprochen habt«, sagte Peeves mit tanzenden Augäpfeln. »Unverschämte Dinge habt ihr über die arme Myrte gesagt.« Er holte tief Luft und rief mit donnernder Stimme: » HEY ! MYRTE !«
»O nein, Peeves, erzähl ihr nicht, was ich gesagt hab, das wird sie ganz durcheinanderbringen«, flüsterte Hermine aufgeregt. »Ich hab’s nicht so gemeint, ich hab nichts gegen sie – ah, hallo, Myrte.«
Der Geist eines plumpen Mädchens war zu ihnen herübergeglitten. Sie hatte das trübseligste Gesicht, das Harry je gesehen hatte, halb verborgen hinter glattem Haar und einer dicken Perlmuttbrille.
»Was ist?«, sagte sie schmollend.
»Wie geht es dir, Myrte?«, fragte Hermine mit gekünstelt munterer Stimme, »schön, dass du mal aus der Toilette rauskommst.«
Myrte schniefte.
»Miss Granger hat gerade über dich gesprochen«, sagte Peeves
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