Hartmut und ich: Roman
»Wir können uns jeden Tag mit einer Millionen Eindrücken voll stopfen, aber mit wenig kommen wir nicht aus? Ertrinken und dabei weiterleben fällt uns leichter, als einfach mal aus dem Wasser zu steigen? Nein, nein, nein!« Er geht aus dem Wohnzimmer, ich höre es rumpeln, und zehn Minuten später sehe ich, wie er den Inhalt seiner Kellerkiste draußen in die Mülltonne entleert. Danach geht die Dusche an.
Hartmut macht weiter. Die Möbel seines Zimmers wandern nach nebenan in den Lagerraum. PC, Stereoanlage, Platten, alles.
Widerwillig helfe ich ihm dabei. Sein Zimmer besteht jetzt nur noch aus einer Matratze auf dem Boden, einem Meditationskissen, einer Matte, einem kleinen Tisch und einer Pflanze. Er mailt seinen Kunden nicht mehr. Er steht um vier Uhr morgens auf und geht weit vor neun Uhr abends ins Bett. Meine Füße frieren morgens am Duschwannenboden fest. Ich sehe ihn kaum noch im gemeinsamen Teil der Wohnung. Es ist sehr still geworden. »Reinheit«, sagt er immer, wenn er überhaupt was sagt. »Es geht um das Reine, das Ewige, das wirklich Wichtige.« Dann verlässt er wieder die Küche, und ich gehe ins Wohnzimmer, um Trash-Fernsehen zu gucken. Es macht keinen Spaß ohne Hartmut.
Schließlich hört er ganz auf zu essen. Er trinkt nur noch Wasser und nimmt ein wenig Reis zu sich, er ist blass geworden, und der Gleichmut, der zwischenzeitlich in seinen Augen gestanden hatte, ist erloschen. Er lässt nicht mit sich reden. Er schließt die Tür ab. Ich stehe davor und sage, dass ich einen Arzt rufen und ihn holen lassen werde, wenn er nicht wenigstens wieder isst, aber Hartmut lacht nur und weiß, dass ich es eh nicht mache. Den Lagerraum mit seinen abgestellten Möbeln hat er abgeschlossen und mir den Schlüssel gegeben. Ins Wohnzimmer kommt er gar nicht mehr. Ich muss etwas tun. Und ich weiß auch schon, was.
Am Samstag lade ich Hanno, Jörgen, Steven und Martin ein. Meinem Befehl, so viel und so geruchsintensives Gras wie möglich mitzubringen, sind sie gefolgt. Auch die Hip-Hop-Platten sind am Start und der vulgärste Dicke-Hose-Metal der westlichen Hemisphäre. Actionfilme werden über die Anlage abgespielt, und während wir zu einem Mischmasch aus Schießerei-Gepolter und Gittarengebretter kistenweise Bierflaschen köpfen und drei Bongs gleichzeitig qualmen, dekorieren wir die Küche mit Tarnnetzen, sündigen Pin-ups und einer glitzernden Discokugel. Die Jungs werfen sich mächtig ins Zeug für Hartmut, auch wenn Martin Hartmuts Verhalten nicht wirklich verstehen kann. Alle wissen: Heute geht’s ums Ganze. Was allerdings keiner weiß: Ich habe eine Geheimwaffe in der Hinterhand. Einen Joker! Die Sache heute wird hart. Das Gegenteil eines Entzugs muss nicht unbedingt leichter sein. Das Gewissen ist ein grausamer Richter. Doch nach einer guten Stunde – ich hole gerade ein Bier aus dem Kühlschrank – sehe ich, wie Hartmut seinen Kopf zaghaft aus dem großen Badezimmer in den Flur schiebt. Seinem Blick kann ich kaum standhalten. Er sieht mich an wie ein katholischer Bischof, dem sein bester Freund so lange mit einem Playboy unter der Nase herumwedelt, bis er seines Lebenssinns abtrünnig wird. Ich sehe, wie Hartmut sich langsam aus dem Zimmer schiebt, wie er sich durch den Flur vorarbeitet, als müsse er ganze Schichten von Watte und Schlamm durchdringen, und wie er dann mit einer Art Hechtsprung zu mir hastet, mir das Bier aus der Hand reißt, die halbe Flasche in einem Zug wegtrinkt und sich den Jungs zuwendet mit einem Blick, der so wirkt, als hätte er sein Schicksal endgültig besiegelt. Nach einer Stunde, in der Hartmut zwei Bongs geraucht, acht Bier getrunken und zwei Stühle beim Küchenpogo zertrümmert hat, sinkt er mit dem Rücken an der Spüle nieder zum Boden und beginnt, hemmungslos zu weinen. Ich bedeute den Jungs, dass sie im Wohnzimmer bleiben sollen, und hocke mich neben ihn. Ich schweige erst mal, und so sitzen wir da, der Küchenboden eine dreckige Mischung aus Bier, Siff und Chipskrümeln.
Hartmut sagt: »Ich bin doch total krank, oder?«
Ich lächle und nicke kollegial. »Machst halt immer alles ganz oder gar nicht«, sage ich.
Er schnieft und schluckt. Dann sagt er: »I can’t get no satisfaction.«
»Auf die eine oder die andere Weise«, nicke ich. »Aber weißt du was?«, fahre ich fort und springe auf: »Ich habe eine Überraschung für dich!«
Hartmut sieht mich verblüfft an. Er scheint mit einem Schlag nüchtern zu sein. Ich schaue auf die Uhr. »Müsste jeden
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