Hartmut und ich: Roman
Vorsprung auf, nehme einen Schluck Bier und frage ihn, worauf er eigentlich hinauswill. Er hält wieder an, und wir stehen uns im Strom der Menschen gegenüber wie Meeresfelsen in Reisekatalogen. Im Augenwinkel sehe ich, wie der junge Türke auf sein Handy starrend auf die Straße läuft. Die Ampel ist wieder rot. Reifen quietschen. Autos husten Beschimpfungen aus ihren Fenstern. Hartmuts Stimme holt mich wieder zurück. »Ich rede von Liebe, mein geschätzter Mitbewohner. Von Einkehr. Von innerer Ruhe. Von dem Gefühl, das du hast, wenn du irgendwo am Strand sitzt und eben nichts weiter brauchst und willst. Von Sex mit jemandem, der nicht bloß eine Dekoration für die Plüschhandschellen ist. Oder den Wohnzimmerkäfig.« Ich wippe unruhig hin und her, trinke an meinem Bier und vermeide den Blickkontakt. Ich hatte mich darauf eingestellt, mit Hartmut in Ruhe ein paar Filme aus der Videothek holen zu gehen, wobei ›in Ruhe‹ bedeutet, dass wir einen langsamen Umweg durch die City machen und uns dabei so viele Bier reindrehen, dass die Auswahl des Heimkinoprogramms schon mit deutlich mehr Enthusiasmus vorgenommen werden kann; mit jener Art von Enthusiasmus, der auch in Filmen wie van Dammes In Hell oder dem neuen Steven-Seagal-Streifen ernsthafte Auswahlkandidaten zu sehen imstande ist. Auf derart ernste Gespräche war ich nicht vorbereitet. Und alles nur wegen der Plüschhandschellen. »Oder ist Sex mit irgendjemandem etwa besser als mit einer Frau, die du liebst? Hä? Ja, für den Augenblick vielleicht, aber woran denkst du, wenn du am nächsten Morgen aufwachst, na? Frühstück machen für die Liebste? Diese Fremde in deinem Bett? Woran denkst du dann? Na? Woran?« Ich weiß, dass Hartmut es mir nicht übel nimmt, wenn ich hier keine Antwort gebe, weil es mir ja genau aus jenen Gründen an Erfahrung fehlt, die Hartmut mir hier glaubt erklären zu müssen. Ich bin kein Schnellpopper. Nur, mit dem langsamen Weg klappt es bei mir auch nicht so recht. Hartmut hat zwar das langsame Ideal, befolgt aber seit geraumer Zeit das Gegenteil. Ich befolge gar nichts. Ich spiele Playstation und kraule Yannick. Wenigstens einer, der lieber mit mir als mit Hartmut kuschelt. Ich werde unruhig. Ich trinke Bier. »Also ich denke nach solchem Sex entweder an Pizza oder an Reclam-Bändchen«, sagt Hartmut jetzt, um die Stille zu durchbrechen. Ich verschlucke mich und muss fast lachen. »An Reclam-Bändchen!!??«
»Ja«, lacht Hartmut. »Außer eben … «
»Außer eben, du liebst die Frau«, führe ich den Satz zu Ende.
Hartmut nickt wie ein zufriedener Lehrer. Der Verkehr rauscht an uns vorbei. Vereinzelt wird gehupt.
Hartmut fällt wieder was ein. »Oder nimm diese Dschungelshow im Fernsehen und diese ganzen Prüfungen mit Spinnen und Schlangen und Aalschleim. Du hast dich doch immer wieder gefragt, was am nächsten Tag noch Schlimmeres kommen kann, oder? Und was machen die Leute, denen selbst das zu harmlos ist?«
Ich schüttele den Kopf. Es nervt mich, wenn Hartmut so didaktisch wird. Ich gehe einen Schritt schneller. »Sie holen sich Snuff-Filme aus der Videothek! Echte Tode. Hardcore-Reality-TV. Weil sie nie genug bekommen! I can’t get no … « Hartmut macht wieder den Mick Jagger, als ich ihn unterbreche: »Und was heißt das jetzt konkret für uns?«, frage ich.
»Was es für dich heißt, weiß ich nicht, aber mir ist jetzt klar, was ich zu tun habe«, sagt er. »Ich konzentriere mich auf das Wesentliche!« Sagt’s, wirft seine Bierdose in eine Mülltonne und zieht mich in die Videothek. An diesem Abend gibt’s keinen Steven Seagal. Stattdessen sehen wir einen immens ästhetischen chinesischen Kampfkunstfilm. »Das Ziel ist die Einheit von Gedanke und Tat. Und nichts mehr zu wollen, loszulassen«, sagt Hartmut am Ende des Films und wünscht mir eine gute Nacht. Dann geht er in sein Zimmer, und ich höre leise Meditationsmusik erklingen. Ich mache mir noch einen Tee und sehe mir mit Yannick das Making of an.
Am nächsten Tag stopft Hartmut im Flur Sachen in eine Kiste, die er aus dem Keller geholt hat. Er wirkt dabei ernst und entschlossen. Seine Bewegungen sind schnell, als handele es sich um eine Sache von größter Dringlichkeit.
»Was packst du denn da weg?«, frage ich, soeben frisch von der Arbeit in meine Hausklamotten gestiegen und eine Tasse Kakao in der Hand.
Hartmut macht einen Schritt zur Seite, auf dass ich einen Blick in die Kiste werfen kann. »Pornos, Actionfilme für den PC, CD-Rohlinge …
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