Hartmut und ich: Roman
EINZUG
»Tja«, sagt unser Vermieter und sitzt auf dem Bierkasten in der Ecke wie ein Teilnehmer an einer Referatsgruppe, der zur Gruppenarbeit aber auch gar nichts beizutragen hat. Er zuckt mit den Schultern, die Flaschen aus dem Kasten bohren ihm in den Hintern. Seine Frau sitzt am Küchentisch und hat ihr spitzes Gesicht über die Kaffeetasse gebeugt. Sie seufzt, hebt schwer ihren kleinen Kopf, guckt wie ein getretener Hund und sieht uns unter der losen Glühbirne über dem Tisch an. »Sie sind dann also die neuen Mieter.« Ich weiß nicht, ob dieser Satz bedeutet, dass es schlimmer als mit den alten nicht werden kann, oder ob sie sich vor der Zukunft fürchtet. So oder so: Eigentlich sind wir es, die sich fürchten müssten. Das Haus, in das wir einziehen, steht schief, weil vor einigen Jahren eine alte Leitung aus Kriegszeiten unter der Erde gebrochen ist, Risse ziehen sich durch die Außenwände, und der Keller ist eine Ansammlung verdreckter und zugestellter Räume, die niemandem mehr gehören und die wir mit den Vermietern vor einigen Tagen eilig und gebückt durchhasteten. Hinten am Haus klebt eine Scheune, die mit Relikten so vieler Menschen voll gestellt ist, dass es scheint, als dürfe jeder Bewohner des Stadtteils hier seinen Schutt abladen.
Seit einer Woche sind Hartmut und ich jetzt in dieser Wohnung, die sich wie ein U um den Hausflur zieht und mit ihren mächtigen 120 Quadratmeter für läppische 400 Euro das ganze Erdgeschoss einnimmt. Tagtäglich haben wir gebaut und gestrichen, geräumt und montiert. Jeden Abend sind wir zum Gasthof gegenüber, der vorne raus eine brillante Frittenbude hat, in der tätowierte jugoslawische Kriegsveteranen die Würstchen drehen. Dann haben wir uns im Wohnzimmer auf Matratzen vor den kleinen Fernseher gesetzt und billige Kabel-1-Reportagen geguckt. Der Ketchup suppte auf den Boden, das Werkzeug lag überall verstreut. Wir hatten Feierabend.
»Keine Sorge, Sie sehen ja, wir kümmern uns gut um das Schätzchen«, sagt Hartmut jetzt und ringt der Vermieterin ein gequältes Lächeln ab. Ich glaube, sie hat gar keine Angst, dass wir ihr die Wohnung versauen, sondern ist vielmehr verzweifelt darüber, dass sich überhaupt wieder neue Mieter gefunden haben und sie dieses Haus nicht endlich loswerden können. Hans-Dieter hatte uns bei der Montage der Telefonanlage so etwas erzählt, von wegen, dass sie »dieses Dreckserbe« im Grunde am liebsten abreißen würden, dann aber doch immer wieder Mieter reinlassen, weil die Mutter sonst ausrastet oder so was. Hans-Dieter ist Informatiker und unser Nachbar aus dem kleinen Anbau hinter der Scheune, einem flachen, langen Schlauch mit vergitterten Fenstern, niedrigen Decken und einer Katze. Hinten raus, noch hinter Hans-Dieter, gibt es einen Garten, 350 Quadratmeter, von denen man nur 30 sieht, weil der Rest zugewachsen ist, es ist wie ein Freigehege, es sollen schon Füchse gesichtet worden sein.
Die Vermieterin seufzt wieder, und ihr winziger Mann grinst auf dem Bierkasten dieses blödsinnige, knopfäugige Grinsen, von dem man nicht weiß, ob er sich damit für sich, seine Frau, das Haus oder die ganze westliche Welt entschuldigt.
»Und der Vertrag?«, frage ich, eine Tasse in der Hand und das Weiterbauen an meiner handgefertigten Buchablage neben der Wanne im Kopf.
»Der Vertrag?«, flüstert die Vermieterin, als hätte ich sie unter der Glühbirne nach einem Alibi für eine Mordnacht im Herbst 1974 gefragt. »Den haben wir leider vergessen mitzubringen«, sagt ihr kleiner Mann auf den Bierflaschen, »wir hatten keine Vordrucke mehr, und wir müssen da mal gucken … wir werfen den einfach mal die Tage in den Briefkasten, dann brauchen wir nicht zu klingeln und stören Sie nicht. Sie können den ja dann irgendwann mal zurückschicken.«
Ich glaube nicht, dass wir den Vertrag in den nächsten Tagen kriegen werden. Hans-Dieter hat einen, hat er uns gesagt. Kirsten, die Polizistin über uns, die eine wackelige Terrasse über der Scheune gebaut hat, auch. Aber die beiden wohnen auch schon seit zehn Jahren hier, da findet sich schon mal ein Vertrag. Das Gothic-Pärchen unterm Dach hat keinen, seit es vor zwei Jahren eingezogen ist. In ihrer Küche merkt man, wie schief das Haus steht, sie haben extra eine Murmel da, um zu demonstrieren, welches Gefälle ihr Boden hat. Wir haben sie wie alle Nachbarn bei unserer Vorstellungsrunde durchs Haus kennen gelernt: Schüchtern waren wir die quietschenden Treppen hinaufgeklettert, eine
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