Hassbluete
ich ihn beobachtete. Dann stieg er auf sein Rad und bog an der Ausfahrt nach rechts ab, nicht nach links, wo es zu uns nach Hause ging.
Ich überlegte, ob ich ihm nachfahren sollte, weil ich nichts Besseres vorhatte, bis Mike endlich mit seiner Mathe-Nachhilfe fertig war. Rechts ging es in die City. Wahrscheinlich würde Robin seine Mutter im Bagel-Bistro besuchen, wie er es oft nach der Schule machte.
Vielleicht waren Janni und Daniel auch da, überlegte ich.
Die Juni-Sonne hatte sich jetzt hinter einer großen Wolke versteckt, als hätte sie einen Deal mit der Juli-Sonne, die es dann in den Ferien richtig krachen lassen konnte.
Nachdem ich mich auf mein Rad geschwungen hatte, bog ich ebenfalls rechts um die Ecke, konnte aber von Robin nichts mehr sehen. Die Rad fahrende Apfelsine war wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht war er scharf nach rechts in eine der Nebenstraßen abgebogen.
Als ich die Fußgängerzone mit den Blumen in den Betonkästen erreichte, war ich mir mittlerweile ziemlich sicher, dass Robin zu Lisa ins Bistro gefahren war. Bei ihr kriegte man immer was umsonst, weil sie meinte, dadurch ihren Sohn darin unterstützen zu können, Freunde zu finden. Und Hunger hatte ich sowieso. Vor dem Bistro standen neben dem Kiosk die Zeitungsständer der lokalen und der überregionalen Zeitungen. Auf den Titelseiten und den aktuellen Werbezetteln, die über den Kästen klebten, gab es heute kaum etwas anderes zu lesen als große Schlagzeilen zum Amoklauf in Elbdetten: »Amokläufer war ein unscheinbarer Junge!« – »Trieb Einsamkeit den Jungen in die Bluttat?« – »Motiv für Amoklauf noch im Dunkeln« – »Schulminister: ›Augen auf bei länglichen Taschen!‹«
Für mich war Elbdetten ziemlich weit weg. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass so etwas auch an der eigenen Schule passierte. Aber das hatten sich die Leute in Elbdetten wahrscheinlich vorher auch gedacht. Ich versuchte, die Gedanken an den Amoklauf zu verdrängen, und beachtete die Zeitungsschlagzeilen nicht weiter.
Nachdem ich mein Fahrrad abgeschlossen hatte, drückte ich die gläserne Tür nach innen auf. Rechts befand sich die längliche Theke. Lisa Richter schnitt gerade einen runden Bagel in der Mitte durch und klappte die beiden Hälften auseinander, als ich mich in die Schlange stellte. Robin war nicht da, Janni und Daniel auch nicht. Robins Mutter strich Frischkäse auf die Innenseiten der beiden Brotkringel. An den Tischen war nicht viel los. Die meisten holten sich einen Bagel to go.
»Einen großen frisch gepressten O-Saft«, sagte ein schlaksiger Junge, der vor mir an der Theke stand.
»Bitte!«, fügte Lisa ermahnend hinzu.
»Von mir aus.« Der Junge gähnte.
»Einen großen O-Saft!«, rief Lisa einer ihrer Kolleginnen zu, die aus der Backstube kam.
»Bitte!«, schob der Junge hinterher.
Lisa sah ihn an und hoffte offenbar, dass ihr Blick verriet: Ich bin hier die Chefin!
»Frisch gepresst?«, fragte die Mitarbeiterin.
»Ja …, bitte.« Der Kunde grinste. Machte er sich lustig über Lisa?
»Kommt Robin noch vorbei?«, fragte die Kollegin Robins Mutter und setzte die Orangenpresse in Gang. Mich hatten die beiden noch nicht bemerkt.
»Nee, ich denke nicht«, sagte Lisa. »Ich hab ihn heute noch gar nicht gesprochen. Er hat noch geschlafen, als ich aus dem Haus bin.«
Robin hatte mich also angelogen: Mit seiner Mutter hatte er eben nicht telefoniert. Aber was war das dann mit diesem Tsunami gewesen? Lisas Kollegin stellte dem Jungen den halben Liter Saft hin und kassierte. Lisa selbst belegte den Bagel mit Lachs und Zwiebeln und packte ihn in eine Tüte. Bezahlt hatte ihre Kundin schon.
In der Schlange wartend checkte ich mein Handy, ob ich eine SMS oder einen Anruf verpasst hatte. Aus Versehen scrollte ich in der Liste der eingegangenen Nachrichten nach unten und war bei den ersten SMS, die ich erhalten hatte – kurz nachdem ich ein neues Handy und eine neue Sim-Karte von meiner Mutter bekommen hatte. Sie verglich immer Handy-Tarife und kam ständig mit einem noch günstigeren Angebot an. Ich geriet auf eine SMS von Robin:
Bin ab drei Uhr unten.
Kein Hi oder Hallo, vielleicht ein Name oder zwei, der von mir und Mike zum Beispiel – Robin schickte seine SMS meistens an uns beide gleichzeitig. Zumindest seit er endlich kapiert hatte, dass ich nichts von ihm wollte. Eines Nachmittags im Keller hatte er mich einfach gefragt, ob ich mit ihm zusammen sein wollte? Das war schon irgendwie süß gewesen,
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