Hassbluete
den Problemen einnehmen zu können, um dem Anrufer wirklich zu helfen. Aber so schnell war alles wieder da.
Helen Marquardt atmete tief durch: Jetzt bloß ruhig bleiben und nichts Falsches sagen! »Was denn?«, fragte sie vorsichtig. »Was … hätten die anderen merken müssen?«
»Dass Tsunami mich … ach vergessen Sie’s. Sie glauben mir ja doch nicht.«
»Doch, ich glaube dir. Du würdest nicht hier anrufen, wenn es dir nicht ernst wäre«, sagte Helen.
Der Junge flüsterte plötzlich, so als könnte Tsunami ihn sonst hören. So als wäre alles, was er laut aussprach, für immer unwiderruflich. »Tsunami hat mich … gebrochen … hat aus mir ein Nichts gemacht und deshalb behandeln mich auch alle wie ein Nichts.« Das hörte sich zu erwachsen an für einen pubertären Jungen. Aber Helen wusste genau, was er meinte, und genau deshalb war es so schmerzhaft.
»Die anderen helfen dir bestimmt, wenn du ihnen sagst, was los ist.«
»Nein, Tsunami macht mit ihnen dasselbe und dann bringt Tsunami sie um.«
Vermutlich war Tsunami der Vater, ein Verwandter, Nachbar, Trainer, Lehrer oder Priester. Er hat den Jungen auf typische Weise eingeschüchtert, dachte Helen. Leider funktionierte das viel zu oft, weil jugendliche Opfer meistens die Allmacht des Täters überschätzten.
»Wieso willst du die anderen bestrafen, wenn sie genauso Opfer von Tsunami sind?«, wandte sie ein.
Stille in der Leitung, darauf wusste der anonyme Anrufer nicht sofort etwas zu sagen.
»Besser sie sterben durch mich als durch Tsunami«, antwortete er nach einer kleinen Pause.
Neben dem Rachegedanken hatte er offensichtlich auch Erlösungsfantasien, schoss es Helen durch den Kopf. Das machte es nicht unbedingt einfacher. Sie musste einen klaren Kopf bewahren, konnte sich noch nicht auf ihre Routine verlassen. Ihr erster Amokläufer war alles andere als ein Trittbrettfahrer.
»Wer soll sterben?«, fragte sie sachte.
»Meine Freunde, meine …«, er stoppte. Ob er Eltern sagen wollte, wusste Helen Marquardt nicht.
»Und was ist mit ihm und mit dir?« Sie wartete, ob er jetzt widersprechen würde, dass Tsunami ein Mann war.
Aber er reagierte nicht, stattdessen sagte er: »Tsunami lass ich am Leben und dann gibt’s lebenslänglich. Im Knast geht’s nicht gerade gemütlich zu. Das ist viel schlimmer, als tot zu sein. Dann weiß Tsunami auch mal, wie das ist.«
Ob er ihn missbraucht hatte, vergewaltigt? Bei Kinderschändern kannten Knackis keine Gnade. Das wusste der Junge offenbar. »Aber du bist der Täter, wenn du Amok läufst - nicht er. Und du lässt ihn davonkommen.«
»Ich mach das ja nicht ohne Grund und Tsunami weiß es.«
»Aber er wird alles dir in die Schuhe schieben.«
Wieder war es still in der Leitung.
Hatte Helen ihn überzeugt? Jetzt musste sie schnell nachhaken.
»Geh zur Polizei und zeig ihn an. Sie werden auf dich aufpassen, sodass er dir nichts tun kann«, sagte sie.
»Aber ich kann nichts beweisen, Tsunami macht es so, dass man nichts sieht.«
»Was macht er?«
»Sag ich nicht. Das hat doch alles keinen Zweck. Ich muss es tun, es ist besser so, für alle, auch für Tsunami. Ich muss auch … Tsunami befreien.«
Der Junge musste sich inzwischen anscheinend sehr konzentrieren, um das Geschlecht des Täters nicht zu verraten. Alles verwies für Helen auf einen Mann, aber man konnte nie wissen. Zumal auch Gewalt von Frauen und Müttern gegenüber Kindern immer öfter in den Schlagzeilen zu finden war.
Helen wusste, dass sie auf diesen letzten Satz schnell reagieren musste, bevor der Junge wie nach einem Schlusssatz plötzlich auflegte und sie ihn vielleicht für immer verloren hatte. »Und dann? Wie soll es dann weitergehen?«, fragte sie hastig. »Willst du seinetwegen dein Leben zerstören?«
»Mein Leben ist schon zerstört, ich bin sowieso tot«, murmelte er und Helen schrak etwas zusammen.
»Ist doch egal, wenn ich auch dabei draufgehe.«
»Willst du dich umbringen?«, fragte sie. »Willst du alles aufgeben, nur seinetwegen? Lass dir helfen! Dieser Tsunami muss gestoppt werden und er muss bestraft werden, für das, was er dir angetan hat. Du kannst diese Situation nicht alleine lösen. Schon gar nicht, indem du dich selbst tötest!« Helen schlug jetzt einen anderen Ton an und versuchte, energischer und fester zu klingen.
»Wenn ich sterbe und die anderen auch, dann ist es seine Schuld. Ich weiß, dass sie es herausfinden werden. Es reicht mir, dass ich weiß, dass … Tsunami … dass es so sein
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