Hauchnah
Mit jedem Foto wurde es einfacher.
Nein, sie konnte keine Einzelheiten, keine Farben erkennen, nicht einmal, in welcher Farbe Melissa in dieser Woche ihr Haar getönt hatte. Als Natalie ihre Freundin das letzte Mal „gesehen“ hatte, wies ihr blondes Haar perfekt zu ihrem Lieblingslippenstift passende magentarote Strähnchen auf. Doch Melissas unscharfer Schatten, verbunden mit der deutlichen Vorstellung in Natalies Kopf, verlieh ihr spontan die Illusion von Sehvermögen. Von Können. Von künstlerischem Geschick.
Ausnahmsweise sah sie nicht, was fehlte, sondern nur das, was vor ihr war.
Sie konzentrierte sich auf die Bildeinstellung und auf die
Linien von Melissas Körper, die sich auf dem weißen Schirm hinter ihr abzeichneten. Bevor sie es sich versah, gab sie Melissa Anweisungen zur Körperhaltung, um beste Ergebnisse zu erzielen.
„Heb die Hüften an und rutsch ein bisschen mehr nach vorn. Gut. Jetzt dreh dich ein wenig nach links und neige dich in meine Richtung vor, aber stütze dich nicht zu sehr auf den Ellenbogen. Nein, das ist zu viel. Nimm dich etwas zurück. Gut, so ist es gut.“
Natalie schoss ein Foto nach dem anderen, verlor sich in den Handhabungen, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen waren. Bald verfiel sie in ein plätscherndes Zwiegespräch, wie sie es immer mit ihren Kunden geführt hatte.
„Und, wie geht’s mit Mark?“, fragte Natalie, obwohl sie die Antwort längst kannte. Sie änderte sich im Grunde nur selten.
Ihre Freundin seufzte dann auch. „Wie immer.“
Sie ging nicht näher auf die Frage ein, und Natalie ließ das Thema fallen. „Wie immer“ bedeutete, dass Mark immer nocharbeitslos und deprimiert war. Gib ihr keine Ratschläge, ermahnte Natalie sich. Sie will keine hören.
„Wie gefällt dir die Arbeit mit dem neuen Fotografen? Geht’s gut?“
„Er ist klasse. Nicht annähernd so begabt wie du.“
Natalie lachte. Schon wieder. Der Ton war so tief, dass sie erschrak. „Das sagst du nur, weil du Angst hast, ich könnte diese Fotos nachher veröffentlichen. Ich garantiere dir, sie sind nicht meine besten.“
Melissa lachte ebenfalls, lehnte sich zurück, lockerte die Schultern und neigte den Kopf zur Seite. „Seine besten Fotos reichen nicht an deine schlechtesten heran, Nat.“
„Hmm.“ Genau so, dachte Natalie begeistert. Genau so will ich dich haben. Sie schoss noch ein paar Fotos.
„So?“, fragte Melissa, die Natalies Stimmung spürte. Womit sie wieder einmal unter Beweis stellte, warum sie immer ein so gutes Team gewesen waren.
„Genau so. Nein, warte.“ Nichts stand zwischen den beiden Frauen, und deshalb ging Natalie jetzt ohne nachzudenken auf die Freundin zu, streckte die Hand aus und bremste ihre Bewegung kurz vor Melissas Taille. „Darf ich?“
„Na…natürlich.“
Natalie legte Melissa sanft die Hand ins Kreuz und lächelte aufmunternd. „Bieg den Rücken durch. Siehst du, wie sich dann die Schultern straffen. Schön. Bleib so. Genau so.“
Freude prickelte in ihren Adern. Ein Triumphgefühl.
Sie hatte gezögert, bevor sie Melissa bat, die Vorbereitungen zu treffen. Vorsichtig hatte sie angefangen zu fotografieren, hatte sich bemüht, ihre Erregung zu beherrschen, weil sie nicht wusste, wohin sie führen würde. Und doch war ihr alles wieder zugefallen, war so natürlich wie Atmen. Und sie wusste, dass sie die Fotos bekommen hatte, die sie wollte. Je nachdem, wie sie sie gestaltete, konnte aus den grauen Flecken mehr entstehen. Ergiebigeres, mit einer tieferen Bedeutung, die auch andere vielleicht sahen. Etwas beinahe … Schillerndes.
„Ach Natalie.“
Die Traurigkeit in Melissas Stimme ließ Natalie erstarren. Sie senkte die Kamera und richtete sich auf.
„Was ist?“
„Du siehst aus wie früher, wenn du fotografiert hast. Du siehst glücklich aus.“
Die Stimme ihrer Freundin brach vor Bewegtheit. Langsam verflüchtigte sich die Euphorie, die Natalie ergriffen hatte, und sie stellte sich Melissa vor, wie sie vor Monaten ausgesehen hatte. Die roten Strähnchen in ihrem Haar erinnerten sie plötzlich an Blutflecke auf einem blütenweißen Laken.
Natalie schüttelte den Kopf. Das Bild löste sich auf. „Es wird besser. Ich bin robust wie eh und je. Schließlich habe ich mich auch gegen Agent McKenzie behauptet. Du wärst stolz auf mich gewesen.“ Was würde Special Agent McKenzie sagen, wenn sie ihn fotografieren wollte? Wenn sie seine Taille anfassen und seine Haltung korrigieren würde, damit sie seinen kräftigen
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