Hauchnah
dass es so lange gedauert hat, Ma’am.“
Sie horchte auf. Seine Stimme kam ihr bekannt vor …
Ganz in der Nähe kreischte eine Katze. Viel zu nahe. Natalie fuhr zusammen und ließ den Stock fallen.
„Nein!“ Sie stand wie erstarrt, die Arme wie im Reflex eines erschrockenen Neugeborenen ausgestreckt. Sie fühlte sich beschämt. Ihr schweres Atmen dröhnte ihr in den Ohren. Langsam ging sie in die Knie, bis ihre Handflächen den Boden berührten. Wie sie es gelernt hatte, tastete sie halbkreisförmig den Boden vor sich ab. „Verdammt, wo bist du?“
Ihre Hände stießen auf einen Gegenstand. Glatt, runde Kuppe. Leder. Schnürung. Sie schreckte zurück. Ein Schuh.
„Ich habe ihn.“
Als sie sich aufrichten wollte, umfasste der Taxifahrer sanftihren Ellenbogen und half ihr auf die Füße. „Danke“, sagte sie, als er ihr den Stock in die Hand drückte.
„Ganz ruhig.“ Er half ihr ins Taxi. Eine Hand, groß und schwielig, legte sich auf ihre, bevor der Mann die Tür schloss und selbst einstieg. „Wohin?“
„Zur Polizeibehörde, bitte.“ Sie holte tief Luft, erstickte fast an dem muffigen Geruch im Taxi. Sie beugte sich vor und streckte die Hand aus, wollte wissen, ob das Taxi noch über die gläserne Trennscheibe verfügte, die in den vergangenen Jahren aus der Mode gekommen waren. Nein. Doch sie hörte das statische Knistern im Funkgerät des Taxis, über das die Zentrale den Fahrern gelegentlich Instruktionen gab.
Der Wagen ruckte an. Natalie lehnte sich mit dem Kopf zurück an den Sitz und schloss die Augen. Im Geiste fuhr sie selbst, zählte Halteschilder und benannte Straßen.
„Neulich Abend habe ich nicht gewusst, dass du blind bist, Natalie. Es tut mir leid, dass das Taxiunternehmen dich so lange hat warten lassen. Als der Fahrer vorfuhr, habe ich ihm gesagt, dass ich das unhöflich finde.“
Was war das für eine merkwürdige Rede? Wovon sprach der Mann eigentlich? Hatte er sagen wollen, er hätte die Zentrale wissen lassen, dass er es unhöflich fand, sie warten zu lassen? „Ich weiß nicht …“
„Die Sache mit Lindsay hat mir auch leidgetan, aber ich muss das Reich Gottes schützen. Dort befindet sie sich jetzt.“
Wieder ergaben seine Worte keinen Sinn. Natalie bemühte sich, sie zu verstehen. Und dann begriff sie und erstarrte. Fetzen von Erinnerungen stiegen in ihr auf. Sechzehn Jahre alt. Lindsay, ermordet. Ihre Leiche, einfach weggeworfen, dann gefunden. Der Kreuzanhänger, der in Natalies Wohnung gefunden wurde.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Seine Stimme war ihr bekannt vorgekommen. Jetzt wusste sie, warum. Er war der Mann, der versucht hatte, sie umzubringen.
„Was haben Sie …?“
Spontan streckte sie die Hand aus, um sich festzuhalten.Rechts ertastete sie die Tür. Unsagbare Angst breitete sich in ihrem Inneren aus.
Sie musste weg. Doch sie saß in einem fahrenden Auto, ohne Fluchtmöglichkeit.
Denk nach, Natalie. Denk nach. Was willst du tun? Das war ihre Stimme.
Du. Deinetwegen kann ich nicht sehen. Eines Tages wirst du es wissen. Eines Tages kriegst du, was du verdient hast. Das war die Stimme ihrer Mutter.
Natalie tat ein paar flache Atemzüge. Angesichts der kurzen Zeitspanne, seit sie ins Taxi gestiegen war, und auch der Anzahl der Abzweigungen, die der Mann genommen hatte, wusste sie, dass sie sich immer noch auf dem Weg aus dem Stadtzentrum heraus zur Autobahn befanden. Es fühlte sich an, als hielte er sich an die vorgeschriebene Geschwindigkeit, doch bald schon würde er bedeutend schneller fahren.
„Ich bin nicht mehr sauer wegen meines Auges. Du hattest Angst. Ich muss einfach nur wissen, was du weißt. Was du der Polizei gesagt hast. Warum du noch einmal zur Polizei willst. Und was auch passiert, es geht ganz schnell. Gott wünscht es so.“
Er war nicht sauer? Der Mistkerl! Der verrückte, mordgierige Mistkerl missbrauchte die Religion, um seine Übergriffe auf andere zu rechtfertigen!
Ihr wurde übel. Sie schloss die Augen und kämpfte gegen den Würgereiz. Sie atmete ein paarmal tief durch, dann klappte sie einen Teil ihres Stocks auseinander, bis er lang genug war, um bis zum Fahrersitz zu reichen.
Ein Lichtschein geriet in ihr Sichtfeld, und sie blinzelte, versuchte den Mann zu erkennen.
Es war nicht möglich. Sie konnte nicht einmal schätzen, wie groß er sein mochte, wenn er hinterm Steuer saß. Aber sie konnte ihn summen hören. Summen.
„Singing in the Rain.“
„Sie mögen Gene Kelly?“ Sonderbar, dass ein Mörder solche
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