Haus der Sünde
Momente, an die sie sich noch genau erinnerte. Sie stellte sich vor, dass das Gras und der Farn noch immer an der Stelle niedergedrückt waren, an der sie gelegen hatte. Und spürte die Erde geradezu auf ihrem Rücken, wo sie gemeinsam mit ihrem Geliebten – ihrem Mann – das Leben gefeiert hatte.
Aber das nächste Mal würde es nicht mehr mit Gerald sein, falls sie so etwas jemals wieder erleben sollte. Ihr geliebter Mann war tot – und das schon seit acht Monaten. Wenn der richtige Zeitpunkt kam, würde sie eines Tages einen neuen Liebhaber in das Wäldchen führen. Dabei würde sie der lächelnde Schatten ihres Mannes bestimmt anfeuern.
Hör auf, solchen morbiden Gedanken nachzuhängen, Claudia, wies sie sich selbst zurecht und ging entschlossen weiter. Sie passte auf, nicht über eine Wurzel oder Schlingpflanze
zu stolpern, die über den Pfad wuchsen. In die Stille des Waldes ertönte nun von weither ein Geräusch, das bis zu diesem Augenblick nicht da gewesen war. Das leise Plätschern des Flusses bildete stets ein angenehmes Hintergrundgeräusch, doch jetzt kam ein lauteres, weniger rhythmisches Platschen hinzu. Es klang ganz so, als badete dort jemand. An der Stelle, wo der Fluss breiter wurde, da er sich durch eine kleine Felsformation schlängeln musste, befand sich ein einladendes kleines Becken. Dort musste sich ein Mensch befinden.
Claudia runzelte die Stirn. Es ging ihr gar nicht darum, dass sich Leute einfach auf ihren Grund und Boden wagten; schließlich war er nirgends als Privatbesitz markiert oder eingezäunt. Es ging ihr vielmehr um ihr inneres Gleichgewicht, das sie sich in den letzten Monaten schwer hatte erkämpfen müssen. Sie wollte dieses zarte Pflänzchen Glück nicht so schnell äußeren Einflüssen aussetzen.
Trotz ihrer Bedenken ging sie weiter. Sie müssen irgendwann auch wieder ins normale Leben zurückkehren, Mrs. Marwood, redete sie sich zu. Und das konnte auch jetzt geschehen. Beinahe meinte sie Gerald hinter sich zu spüren, wie er sie anstieß, weiterzugehen.
Doch gerade, als sie aus dem Wäldchen auf die Lichtung treten und sich zeigen wollte, riet ihr eine innere Stimme, sich zurückzuhalten. Sie nahm ihren Hut ab und verhielt sich ganz still. Vorsichtig atmend wagte sie es nach einigen Minuten, ein paar Zweige beiseite zu schieben und zum Fluss hinunterzuspähen.
Auf dem Felsen, auf dem auch sie oft saß und mit den Füßen im Wasserbecken plantschte, befand sich jetzt ein nackter Mann, der ebenfalls seine Beine im Fluss abkühlte. Er war groß und wirkte mit seinen langen, gelockten und mittelbraunen Haaren recht jung. Konzentriert blickte er auf das Wasser, das um seine Knöchel floss. Was auch immer er dort
sehen mochte, es veranlasste ihn dazu, die Stirn gedankenvoll zu runzeln.
Nachdem sich Claudia von ihrem ersten Schreck über den nackten, jungen Körper erholt hatte, atmete sie wieder normal und betrachtete die Erscheinung des Mannes genauer. Rasch wurde ihr klar, dass er ausgesprochen gut aussah. Auf eine ausgefallene Art war er sogar schön. Aber irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Irgendetwas verstörte ihn oder machte ihm sogar Sorgen. Offensichtlich war er es gewesen, dessen Planschen sie vorhin gehört hatte, denn seine blasse Haut schimmerte feucht im Sonnenlicht. Doch jetzt starrte er gedankenverloren auf sein Spiegelbild im Wasser. Sein kantig geschnittenes, wenn auch jungenhaft wirkendes Gesicht war derart faszinierend, dass Claudia es so lange hätte betrachten können, wie er es zuließe. Denn die Weise, in der er sich selbst betrachtete, wirkte überhaupt nicht selbstverliebt. Er blickte vielmehr aufs Äußerste besorgt aus, als würde er sich vor seinen eigenen schönen Gesichtszügen fürchten.
Auch du hast einen ziemlichen Hieb einstecken müssen, nicht wahr, Fremder, dachte Claudia. Nun bemerkte sie, dass auf dem glatten, leicht muskulösen Körper des jungen Mannes mehrere größere blaue Flecken zu sehen waren. Als er eine Hand hob und seine weichen, wirren Haare aus der Stirn strich, bemerkte sie auch einen hässlichen roten Fleck auf seiner Schläfe. Vorsichtig berührte er die Verletzung und zuckte zusammen. Claudia sah dies voll Mitgefühl. Nach einem Moment weiteren Nachdenkens stand er langsam und anmutig auf, und da sah sie etwas, das sie sogleich jeglichen Gedanken an Schmerz vergessen ließ.
O ja! O ja, ja, ja!
Claudia hätte am liebsten einen anerkennenden Pfiff ausgestoßen, doch sie vermochte gerade noch, den Laut der
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