Haus des Glücks
eurem Haus herum. Deine Mutter war damit zufrieden zu kochen, zu putzen und auf den Rest der Familie zu warten. Deine Schwester Cornelia ist ähnlich veranlagt. Wenn sie in der Sandkiste saß, ist sie dort geblieben und hat stundenlang mit ihren Förmchen gespielt. Das war dir zu langweilig. Spätestens nach dem zweiten Sandkuchen bist du über den Rand gekrabbelt und hast die Gegend erkundet. Wie oft haben deine Mutter und ich dich aus dem Gestrüpp ziehen müssen, weil deine Hose an einem Ast festhing!«
Sie mussten beide lachen.
»Du bist eine wunderbare Mutter. Du hast für deine Kinder gesorgt, solange sie dich rund um die Uhr brauchten. Aber du bist keine der Frauen, die es ausfüllt, die Wohnung staubfrei zu halten und neue Rezepte auszuprobieren. Und das macht dich unzufrieden.«
Julia nippte an ihrem Tee. »Wie kommst du darauf?«
»Ich glaube, wir beide sind aus demselben Holz geschnitzt.«
Sie sah ihre Großmutter nachdenklich an. Es stimmte, dass alle in ihrer Familie behaupteten, sie würde Oma Lotte ähnlicher sehen als ihrer Mutter: Sie hatte Omas dunkelbraune Augen, ihre schlanke, zierliche Figur und die dichten, dunklen Haare, während Mama und Cornelia groß, grauäugig und blond waren und zu Pölsterchen neigten. Aber bisher hatte Julia diese Ähnlichkeit nur auf Äußerlichkeiten bezogen.
»Als deine Mutter und Onkel Stefan in die Schule gingen, bin ich zu Hause die Wände hochgegangen. Aber ich hatte den Vorteil, dass ich mit Opa mitfahren und mir die Welt ansehen konnte. Anfangs natürlich nur in den Ferien, später, als die beiden auf eigenen Füßen standen, sooft ich wollte. Ich habe mich auf dem Schiff ein bisschen nützlich gemacht, habe Mutterersatz für die Besatzung gespielt. Ich meine damit nicht, dass du anheuern und in See stechen sollst. Du brauchst eine Aufgabe, eine wirkliche Herausforderung.«
Julia dachte einen Augenblick darüber nach und stellte erstaunt fest, dass Oma Lotte recht hatte. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt, weil sie sich überflüssig und unterfordert vorkam. »Hast du einen Vorschlag für mich?«
»Das musst du schon selbst entscheiden, min Deern. Aber Möglichkeiten gibt es viele. Du hast einen Beruf erlernt. Du könntest in einem Krankenhaus oder einer Senioreneinrichtung arbeiten. Pflegekräfte werden immer gesucht.«
Julia nickte. Ja, sie war examinierte Krankenschwester. Auch wenn sie seit über zehn Jahren nicht mehr in dem Beruf gearbeitet hatte, würde sie bestimmt eine Stelle finden. Allerdings hatte sie die Ausbildung damals nur gemacht, weil ihr Notendurchschnitt nicht ausgereicht hatte, um direkt nach dem Abitur Medizin zu studieren.
»Du könntest auch eine ehrenamtliche Tätigkeit in eurer Gemeinde oder bei einer karitativen Organisation übernehmen. Oder du erfüllst dir einen Traum«, fuhr Großmutter fort und traf damit zum zweiten Mal an diesem Vormittag den Nagel auf den Kopf.
Warum nicht? Medizin studieren. Endlich doch Ärztin werden.
Wenigstens darüber nachdenken konnte sie.
»Mir scheint, dir schwebt auch schon etwas vor.«
Julia spürte, wie sie rot wurde. »Ich dachte gerade daran, dass ich früher Medizin studieren wollte.« Sie seufzte und sah hinaus auf die Elbe. »Aber ich weiß nicht. Jetzt noch mit einem Studium beginnen? Ich bin doch schon vierunddreißig.«
»Das ist wirklich alt«, sagte Oma Lotte spöttisch. »Aber nicht so alt wie meine Karin, die sich mit ihren einundachtzig als Gasthörerin an der Universität für Sinologie eingeschrieben hat. Ihr Enkel ist mit seiner Familie für die nächsten Jahre nach Peking gezogen, und sie wollte schon immer Chinesisch lernen. Wenn es für sie nicht zu spät ist, weshalb sollte es dann für dich zu spät sein?« Sie griff über den Tisch hinweg nach Julias Hand. »Hör mir zu, mein Kind, ich gebe dir jetzt einen Rat: Solange du im tiefsten Inneren unzufrieden bist, wird auch deine Familie nicht zufrieden sein können. Dann bist du gereizt, verbringst schlaflose Nächte und vernachlässigst deine Aufgaben. Und das kann weder dein Wunsch noch dein Ziel sein. Finde heraus, wie du dein Leben gestalten willst. Beginne, deine Pläne in die Tat umzusetzen. Selbst wenn sich nicht alles erfüllen oder realisieren lässt, wirst du zufriedener sein. Und deine Familie wird es dir danken.«
Julia nickte langsam.
»Am besten, du fängst gleich damit an. Erkundige dich nach dem Studium. Und besprich es mit Marco, noch heute Abend.«
»Jaaa …«
»Keine Ausflüchte!«, sagte
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