Hawkings neues Universum
Elimination der Urknall-Singularität in der physikalischen Kosmologie erfordert eine Erklärung des Urknalls mithilfe einer Theorie, die mindestens eine der Annahmen zurückweist, und die überdies verständlich machen kann – am besten mithilfe einer rigorosen theoretischen Ableitung aus den Prinzipien dieser Theorie –, warum diese Annahme nicht gültig ist.
„Wenn die klassische Allgemeine Relativitätstheorie richtig ist, dann muss in der Vergangenheit tatsächlich eine Singularität existiert haben, die der Beginn der Zeit war“, sagt Hawking. „Alles, was vielleicht vor der Singularität existiert hatte, konnte demzufolge nicht als Teil des Universums betrachtet werden.“
Falsch wäre es aber zu sagen, dass das Universum aus der Urknall-Singularität entsprang. Denn diese Krümmungssingularität ist kein „Gegenstand“ oder Teil der Natur (sondern allenfalls ein abstraktes Objekt einer physikalischen Theorie). Sie ist kein realer Rand der Raumzeit, sondern vielmehr die Grenze der physikalischen Beschreibung dieser Raumzeit. Somit gehört die Singularität nicht zum Raum und zur Zeit und markiert daher strenggenommen auch nicht den Anfang der Zeit. In der Singularität versagt die gegenwärtige Physik und Kosmologie. Aber das sagt noch nicht unbedingt etwas über die Natur aus, sondern zunächst einmal nur über die Vorstellung, die sich die Physiker und Kosmologen von ihr machen.
„Alle bekannten wissenschaftlichen Gesetze verlieren an einer Singularität ihre Gültigkeit. Daraus würde folgen, dass die Wissenschaft keine Aussagen darüber machen kann, wie das Universum begonnen hat, wenn die Allgemeine Relativitätstheorie stimmt“, sagt Hawking. Es ist möglich, dass die Singularität – als eine Grenze der menschlichen Erkenntnis – nicht „überwunden“ oder „gesprengt“ werden kann. Dann wäre sie ein Endpunkt physikalischer Erklärungen, eine Sackgasse des Naturverständnisses, ein scharfer Schlussstrich für den Versuch, den Ursprung des Universums zu verstehen. Doch ob das der Fall ist, ist momentan eine offene und höchst brisante Frage. Eine Frage, die an die vorderste Front der kosmologischen Forschung führt.
Modelle und die Wirklichkeit
Mitunter werden die kosmologischen Theorien und Spekulationen von erbsenzählenden Zeitgenossen als Glasperlenspiel abgetan, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Dies offenbart allerdings ein grundsätzliches Missverständnis. Ohne theoretische Modelle läuft nämlich gar nichts in der Physik. „Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann“, hatte es Albert Einstein einmal pointiert. Stephen Hawking sieht es ähnlich, geht aber noch weiter als Einstein und stellt den Zugang zu einer theorieunabhängigen Realität sogar in Frage. „Ich bin Anhänger einer positivistischen Philosophie: Physikalische Theorien sind nur mathematische Modelle, die wir konstruieren“, sagte er 2001 zum Autor. „Wir können nicht fragen, was die Wirklichkeit ist, denn wir haben keine modellunabhängigen Überprüfungen von dem, was real ist. Ich stimme nicht mit Platon überein.“
In seinem Buch Der große Entwurf hat Hawking diesen Gedanken weiter entwickelt und seine erkenntnistheoretische Position präzisiert. Er nennt sie den „modellabhängigen Realismus“ und definiert diesen als „die Vorstellung, dass eine physikalische Theorie oder ein Weltbild ein (meist mathematisches) Modell ist und einen Satz Regeln besitzt, die die Elemente des Modells mit den Beobachtungen verbinden. Das liefert uns ein Gerüst zur Interpretation der modernen Wissenschaft.“ Theorien stellen also nützliche Instrumente dar, die nicht unbedingt „Ausdruck tieferer, den beobachteten Phänomenen zugrundeliegender Wahrheiten sind“. Dies bedeutet aber nicht, dass physikalische Modelle beliebig und willkürlich sind. Im Gegenteil, Hawking nennt vier Qualitätskriterien: Eleganz, Sparsamkeit, Erklärungskraft und Vorhersagefähigkeit. Danach müssen sich die Hypothesen messen lassen – auch solche, die die Singularität vermeiden und den Urknall erklären wollen.
Teil III
Inflationäre Zeit
Kosmologen irren sich oft,
aber sie zweifeln nie.
Lev Landau (1908–1968),
sowjetischer Physiker
Das unordentlichste Büro und die Weite des Weltalls
Für den Uneingeweihten sieht das kleine Büro wie eine zugemüllte Rumpelkammer aus: Stapel von Papier überall – auf dem Schreibtisch, darunter, daneben, sogar auf einem Stuhl. Fotokopien, Zeitschriften,
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