Hawkings neues Universum
Inflation vereinbaren lassen. Er fand, dass die Schwankungen nicht nur kein Widerspruch zur Inflation sind, sondern von ihr sogar erst auf die erforderliche Größe gebracht wurden. Entscheidend ist nämlich, dass sich der Quantentheorie zufolge stets winzige zufällige Fluktuationen ereignen. Das ist von der Heisenbergschen Unschärferelation her gut bekannt. Es betrifft aber nicht nur beispielsweise Impuls (Masse mal Geschwindigkeit) und Ort oder aber Energie und Zeit von Teilchen, sondern auch die Entwicklung der Skalarfelder. Somit musste sich das Inflatonfeld an verschiedenen Stellen im All geringfügig in seinem Wert unterschieden haben, bevor die Inflation zu Ende ging. Anders formuliert: Wo die Inflation ein wenig länger dauerte, müsste die Materie etwas dichter sein als dort, wo die Inflation etwas früher endete. Diese Zufallsschwankungen – Kosmologen sprechen von primordialen Quantenfluktuationen – könnten, so spekulierte Hawking, die Inhomogenitäten erzeugt haben, aus denen später die Galaxien entstanden sind. Wenn das stimmt, wären für die Existenz der größten Strukturen im Weltraum winzige Quanteneffekte verantwortlich, die sich normalerweise nur in subatomaren Größenordnungen ereignen, durch die Inflation aber auf kosmische Skalen aufgebläht wurden.
Für Guth und seine Kollegen war das eine aufregende Hypothese. Denn sie löste nicht nur eine offene Frage des Inflationsmodells, sondern sie eröffnete auch die verlockende Chance, dieses Modell zu überprüfen: Ein Abdruck der primordialen Dichteschwankungen sollte nämlich in der Kosmischen Hintergrundstrahlung erhalten geblieben sein. Wenn es gelänge, ihre Stärke und Verteilung mit Hilfe des Inflationsmodells vorherzusagen und die Prognose mit künftigen astronomischen Beobachtungen zu konfrontieren, wäre ein entscheidender Test möglich. Was als theoretische Spekulation begann, und mehr war es zunächst nicht – Eleganz und Erklärungsanspruch hin, Enthusiasmus der Experten her –, rückte plötzlich in die Reichweite einer harten wissenschaftlichen Überprüfung. Dadurch avancierte das Szenario zu einer respektablen Hypothese.
Allerdings wurde rasch deutlich, dass die Berechnung der Dichteschwankungen, wie sie mit der Inflation entstanden sein sollten, außerordentlich schwierig war. Hawking hatte sie nur skizziert. Bevor Alan Guth zum Nuffield-Workshop nach Cambridge reiste, hatte er deshalb zusammen mit dem koreanischen Physiker So-Young Pi begonnen, die Fluktuationen mit einer einsichtigeren Methode abzuschätzen. Er fand, als er die Berechnungen in Cambridge abschloss, aber größere Schwankungen als Hawking. Die ersten Diskussionen brachten keine Einigung. Noch verwirrender wurde es, als Paul Steinhardt, Jim Bardeen und Michael Turner mit einem dritten, deutlich niedrigeren Ergebnis aufwarteten. Und dann gab es noch Alexei Starobinsky, der bereits vor Guth auf die Inflation gestoßen war, aber im Rahmen eines anderen kosmologischen Problems und Mechanismus, und der damals nicht erkannt hatte, dass dadurch das Horizont- und Flachheitsproblem gelöst würde.
Starobinsky hielt den ersten Vortrag zum Thema. Er war schwierig zu verstehen, aber sein Ergebnis fiel eindeutig aus: Es lag nahe bei Guths Resultat und wich von Hawkings ab. Dieser kam am nächsten Tag an die Reihe, wiederholte seine ursprüngliche Argumentation, überraschte dann aber mit einem neuen Ergebnis, das mit dem von Starobinsky übereinstimmte. Offenbar hatte er einen Fehler gefunden, doch er erwähnte die Verbesserung mit keinem Wort. Auch Steinhardt und seine Freunde korrigierten sich einige Tage später. Sie waren auf einige Fehler in den verwendeten Näherungswerten gestoßen, und ihr neues Resultat deckte sich mit dem der Konkurrenten. Daher verlief auch Guths Vortrag reibungslos, obwohl er bis zuletzt fieberhaft an der Überprüfung diverser Teile seiner Berechnungen gearbeitet – und dabei sogar das offizielle Konferenz-Abendessen vergessen – hatte. So waren sich am Ende des Workshops alle vier Parteien einig. Zu ihrer Überraschung mussten sie allerdings einige Zeit später erfahren, dass das Problem, an dem sie so hart gearbeitet hatten, bereits 1981 von den russischen Physikern Slava Mukhanov und Gennady Chibisov am Lebedev-Institut in Moskau gelöst worden war. Das geschah zwar nur im Hinblick auf Starobinskys ursprüngliches Modell mit den modifizierten Einstein-Gleichungen, deckte sich aber im Wesentlichen mit den Resultaten der
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