Nachtwelt (German Edition)
5:30 Uhr und schlechte Laune
Sie ist eine gute Schläferin. Sie legt sich ins Bett, liest noch ein paar Seiten und versinkt dann in einen traumlosen Schlaf. Nach dem Aufstehen braucht sie eine Stunde, um ihre allmorgendliche, schlechte Laune abzulegen. Danach ist sie fit für den Tag.
Aber an diesem Morgen, als der Wecker wie immer um 5:30 Uhr klingelt, ist Mimi nicht nur ausgesprochen übellaunig, sondern auch total müde und kaputt. Seit Wochen hat sie schlimme Nächte mit verwirrenden Träumen, die beim ersten Schlag auf den klingelnden Wecker vergessen sind.
Sie schläft unruhig und scheint in der Nacht gegen Dämonen zu kämpfen. Heute hängen ihr die zerzausten Haare quer übers Gesicht und eines der zwei Kopfkissen liegt neben dem Bett. Mimis Pyjamajacke ist eng um ihren Körper gewickelt und während sie versucht sich von der Jacke zu befreien, stellt sie fest, dass zwei Knöpfe abgerissen sind.
Im Bad, beim Blick in den Spiegel, starrt sie auf ihre Augenringe. Dunkle Schatten, mit einem Stich ins Violette. An diesem Morgen verliert sie beim Bürsten viele Haare, da ihr die Geduld fehlt, diese vorsichtig zu entknoten. Je mehr es weh tut, desto wütender reißt sie an der Bürste.
Die Kaffeemaschine läuft und der Toast sonnt sich zwischen den glühenden Gitterstäben.
Nach dem Frühstück nimmt sich Mimi einen Becher Kaffee und eine Zigarette mit in den Garten. Sie raucht selten, aber nach so einer Nacht und schmerzender Kopfhaut, hat eine Zigarette etwas Tröstliches.
Draußen merkt sie es sofort. Über Nacht ist der Frühling gekommen. Die Luft ist mild und ihre Strickjacke reicht aus, um nicht zu frieren. Es riecht wunderbar nach neuem Leben. In der letzten Nacht scheinen die Narzissen und Tulpen mehrere Zentimeter aus der Erde geschossen zu sein. Nicht mehr lange und sie werden anfangen zu blühen. Es dauert nur einen Moment, bis Mimi ihren kleinen Garten durchquert hat. Mit Kaffeepott und Zigarette sitzt sie auf der uralten Steinbank, die in einer Nische zwischen den Hecken steht. Während des Winters haben sich auf dem Stein Moos und Flechten festgesetzt.
Für Mimi ist die Bank der Ort, der absoluten Ruhe. Mit den eingemeißelten Blättern, Blüten und fratzenhaften Dämonenköpfen scheint die Bank aus einer magischen Welt zu kommen. Hier zu sitzen besänftigt sie. Müdigkeit und schlechte Laune sind vergessen.
Mimi stellt ihren Kaffeebecher in die Spüle, schmiert noch ein paar Brote und stopft die Tupperdose, zusammen mit der Thermoskanne, in ihren Rucksack. Während sie ihre Haustür zuzieht beschließt sie, dass heute der Tag des Frühjahrsputzes gekommen ist.
Viel Zeit wird dieser nicht in Anspruch nehmen. Die Größe ihres Hauses ist der Größe des Gartens angepasst – klein. Die Grundfläche beträgt ungefähr siebzig Quadratmeter. Ursprünglich diente das Häuschen als Remise und gehört zu dem stattlichen Herrenhaus, in dem Mimis Vermieter wohnen. In den achtziger Jahren wurde es zum Gästehaus umgebaut und seit zwei Jahren ist Mimi stolze Mieterin dieser kleinen Puppenstube. Ein Backsteinhaus, mit Sprossenfenstern und alten Fensterläden, in die Blumenornamente geschnitzt sind. Efeu und wilder Wein haben sich die Vorderseite des Hauses zu Eigen gemacht.
Das Allerschönste an Mimis Haus ist eine der Giebelseiten. Diese ist bis in die Spitze des Daches verglast. Hinter dem riesigen Fenster liegt Mimis Wohnzimmer und in der Etage darüber ihr Schlafzimmer. Vom Sofa und dem Bett aus hat man einen herrlichen Blick, in den kleinen, verwunschenen Garten. Haus und Garten liegen auf dem parkähnlichen Gelände des Herrenhauses, versteckt hinter hohen Bäumen und Büschen.
Mimi schultert ihren Rucksack. Um schneller durch den Park zu kommen, nimmt sie das Fahrrad. Am Haupttor hat sie ihren Wagen geparkt. Sie radelt über die schmalen Sandwege, die sich durch das leicht hügelige Gelände ziehen. Wie eine grüne Decke liegt die Rasenfläche zu beiden Seiten des Weges. Manchmal wird die Fläche von runden Beeten, deren Durchmesser zehn bis zwanzig Meter beträgt, durchbrochen. Wie kleine Inseln schwimmen sie in dem endlosen Grün. Im Sommer gibt es ein Beet mit Wildblumen und eines mit Rosen und Lavendel.
Außerdem gibt es im Park ein Labyrinth, aus drei Meter hohen Lebensbäumen, in dessen Mitte ein Pavillon steht. Mimi stellt sich vor, wie dort junge Frauen, in altertümlichen Kleidern, darauf warten, dass ihr Liebster den Weg zu ihnen findet und sie
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