Heidelberger Requiem
Sieger. Das war gut. Hier lag vielleicht eine Chance. Seine Lider fielen herab, er riss sie wieder hoch, atmete tief ein.
»Machen Sie ein Fenster auf«, befahl er mürrisch. »Nein, nicht Sie. Und der Vorhang bleibt zu!«
Ich war schon aufgesprungen und fiel wieder in meinen Sessel. Frau Gardener erhob sich wortlos und kippte das Fenster zum Garten. Sie schien unserem Gespräch also doch zu folgen. Als ich wieder Krahl ansah, waren seine Augen geschlossen. Sollte er tatsächlich eingeschlafen sein? Jeden Moment konnte er wieder aufwachen. Aber wenn ich es schaffte, ihm dann meine Waffe unter die Nase zu halten, dann hatte er verloren. Er würde entweder die Hände heben oder nach seinem Revolver greifen. Und sowie er den in der Hand hielt, würde ich abdrücken. Langsam, unendlich langsam bewegte sich meine Rechte in Richtung Jackettausschnitt. Sie glitt darunter. Kein Geräusch war zu hören. Krahls Atem ging ruhig und gleichmäßig. Mit den Fingerspitzen fühlte ich schon den körperwarmen Stahl meiner Waffe. Noch zwei Sekunden. Noch eine.
»Das können Sie lassen«, sagte Helen Gardener ruhig neben mir. »Der wird die Augen nicht mehr aufmachen.«
Es dauerte lange, bis ich den Sinn ihrer Worte begriff. Auch Grotheer erwachte erst allmählich aus seiner Angststarre. Ungläubig sah er auf die Frau, dann auf den Mann neben sich, aus dessen Mundwinkel jetzt ein klein wenig Speichel trat. Krahls Kopf fiel zur Seite. Sein Atem wurde flacher und flacher. Zögernd ließ ich die Hand sinken.
»Was haben Sie ihm gegeben?«, fragte ich endlich.
»Tropfen«, antwortete sie einfach und ergriff wieder Grotheers schmale Hand. »Er wird’s nicht überleben.«
Helen Gardener behielt Recht. Als der Notarzt Minuten später Krahl untersuchte, war er bereits tot. Wie sie uns ohne jede Aufregung erzählte, hatte sie sich schon vor vielen Jahren ein schnell wirkendes Gift besorgt, um sich das Leben zu nehmen, nachdem ihr Mann verschwunden war und Grotheer nichts mehr von ihr wissen wollte. Aber dann hatte sie nicht den Mut gefunden, es zu nehmen.
»Ist nicht so leicht zu sterben, wie man denkt«, erklärte sie ernst. »Dreimal hab ich’s schon im Glas gehabt. Aber ich konnt’s nicht. Ich konnt’s einfach nicht. Die Kinder, die haben mich doch gebraucht. Man muss weiterleben. Muss einfach. Ob man will oder nicht.« Unvermittelt begann sie zu schluchzen. »Er wollt mir meinen Franz wegnehmen!«, heulte sie. »Und dabei ist er doch gerade erst zu mir gekommen! Endlich ist er gekommen, und dann steht der da vor der Tür und …«
Vangelis nahm sie sanft am Arm und führte sie hinaus. Die Spurensicherer baten uns, aus dem Weg zu gehen. Ich trat mit Grotheer zusammen auf die Terrasse. Zwei rauchende SEK-Beamte machten uns bereitwillig Platz. Die Luft war kalt, es roch nach Herbstfeuer und feuchter Erde. Plötzlich war ich sehr, sehr müde. Grotheer bat einen der schwarz Uniformierten um eine Zigarette.
»Früher war sie eine Schönheit«, murmelte er, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er mit Helen Gardener im Bett gewesen war. Es waren die ersten Worte, die ich ihn an diesem Abend sprechen hörte. »Man kann es kaum glauben, wenn man sie heute sieht. Eine so lebenslustige, heitere Frau. Wir waren ja mehr oder weniger Nachbarn in Neuenheim, unsere Kinder waren befreundet, und da geschehen eben manchmal Dinge, die vielleicht nicht hätten geschehen sollen. Wird sie jetzt wegen Mordes angeklagt?«
»Wohl kaum. Ich werde aussagen, wie es war. Dass sie Ihnen das Leben gerettet hat. Und mir vielleicht auch.«
»Wie sind Sie nur darauf gekommen …?«, fragte er mit flacher Stimme und blies den Rauch weit von sich. »Wie konnten Sie wissen, dass ich hier bin?«
»Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, Herr Professor. Vor Jahren waren eines Abends meine Töchter verschwunden. Im Kinderzimmer lag ein Zettel, ›Wir fahren nach Amerika‹. Mehr nicht. Sie waren damals gerade acht geworden und fühlten sich wegen irgendeiner Kleinigkeit ungerecht behandelt. Die ganze Nacht haben wir wie die Verrückten nach ihnen gesucht. Das ganze Viertel haben wir auf den Kopf gestellt, alle Bekannten und Freunde geweckt. Schließlich, es war schon nach Mitternacht, da habe ich sie als vermisst gemeldet. Aber sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte sie seit dem frühen Nachmittag gesehen. Sie waren einfach weg. Am frühen Morgen haben wir sie dann endlich gefunden, im Keller, in einem Schrank auf alten Decken,
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