Heidelberger Wut
die Augen geschlossen, die Waffe an sich genommen und war in völliger Auflösung geflohen, ohne zu wissen, wovor und wohin. Und nun saß er dort drüben mit seinen Geiseln, unter denen sich meine Sarah befand, und sah keinen Weg mehr zurück in ein lebenswertes Leben. Er war kein Gewalttäter, so viel stand fest. All diese martialischen Gestalten, aus deren Sprechfunkgeräten es in einem fort aufgeregt quäkte, waren hier vollkommen fehl am Platz. Er würde aufgeben, sobald er wieder halbwegs bei Verstand war. Davon war ich jetzt schon wieder ein bisschen überzeugt.
Sarah. Warum hatte ich ihr denn nicht den kleinen Gefallen getan, sie zu ihrem gefürchteten Termin zu begleiten? Meine Ausreden waren genau das gewesen, als was meine Mädchen sie ansahen: faul. Ich hatte mich gedrückt, das war die banale Wahrheit. Hätte ich wirklich gewollt, dann hätte ich mich problemlos irgendwann für eine Stunde frei machen können, um ihr den kleinen Gefallen zu tun.
Hatte ich aber nicht. Sollte ihr etwas zustoßen, dann würde es mir gehen wie Seligmann – zeitlebens würde ich mich schuldig fühlen.
Balke schreckte mich aus meinen Grübeleien. Er drückte mir einen Zettel mit einer Handynummer in die Hand.
»Ich habe mit dem Sender telefoniert. Das ist die Nummer, von der er angerufen hat. Vielleicht, wenn Sie schnell sind …«
Es gelang mir, die Nummer schon beim ersten Mal richtig einzutippen.
Seligmann nahm sofort ab.
»Gut, dass Sie anrufen.« Er hustete. »Die Leute haben Hunger. Ich hab eine kleine Liste gemacht.«
Ruhig diktierte er mir die Bestellung. »Zweimal Pizza Quattro Stagioni, einmal vegetarisch und einmal Al Tonno. Zu trinken drei große Cola und ein paar Flaschen Wasser, bitte.«
Er sagte tatsächlich »bitte«.
Die vegetarische Pizza war bestimmt für Sarah. Herrgott, war mir schlecht.
»Wie kommt das Zeug zu Ihnen?«
»Das erfahren Sie früh genug. Sonst kommen Sie nur auf dumme Gedanken.«
Er sprach so langsam, stand er etwa unter Drogen? Ein Beruhigungsmittel vielleicht? Alkohol? Und wäre das gut oder schlecht?
Balke organisierte schon die Bestellung.
Der nächste Anruf kam wieder von den Kollegen in Eppelheim.
»Wir haben den Brief jetzt ausgewertet«, erklärte mir Doof in wichtigem Ton. »Möchten Sie die kurze oder die lange Fassung?«
»Die kurze reicht völlig.«
»Also, es war so: Anscheinend wollte die Frau ihren Mann verlassen und mit ihrem Nachbarn ein neues Leben anfangen. Der hat aber zu ihr gesagt, das geht nicht, sie haben ja kein Geld.«
»Und dann ist sie auf diese hirnrissige Idee gekommen …?«
»Ein bisschen hat sie sich wohl auch gefreut, dass sie ihrem Mann eins reinwürgen kann. Er hat sie betrogen, seit Jahren, und sie hat es schon lange gewusst. Dass er angeschossen wird, war von Anfang an geplant.«
Der Kollege berichtete mir noch einige Details, dann legte ich auf.
»Wussten Sie, dass Rebecca Braun aus Mainz stammt?«, fragte ich Vangelis.
»Nein!«, antwortete sie erbleichend.
»Dann wissen Sie natürlich auch nicht, dass ihr Elternhaus neben dem der Familie Kräuter steht.«
Entsetzt starrte sie mich an. »Was für eine Schlamperei! Das hätten wir längst wissen müssen!«
»Vermutlich ist ihr Sohn nicht zufällig in diese WG in Marburg geraten, sondern sie hat ihn dort untergebracht. Bei alten Bekannten sozusagen.«
»Das hätte nicht passieren dürfen«, murmelte sie kopfschüttelnd. »Und ich bin auch noch schuld daran!«
Nun hatte also auch sie Grund, sich schuldig zu fühlen. Wäre ihr dieser Fehler nicht unterlaufen, dann säße Rebecca Braun vermutlich im Gefängnis, aber sie wäre immerhin noch am Leben.
Um kurz nach sieben war endlich alles bereit. Seligmann hatte Anweisung gegeben, eine junge, unbewaffnete Polizistin solle den Pizzaboten machen, während er dem Zahnarzt die entsicherte und durchgeladene Pistole an den Kopf hielt.
Die Aktion verlief gut, kurze Zeit später sahen wir aufatmend die Kollegin wieder ins Freie treten. Wie sie mir ein wenig atemlos berichtete, hatte sie außer Monika Eichner niemanden zu Gesicht bekommen. Sie habe ihr alles an der Tür übergeben und sich dann sofort zurückziehen müssen. Frau Eichner sei blass gewesen, habe aber gefasst gewirkt.
»Es wird alles gut«, hatte sie ihr zugeflüstert. »Sagen Sie bitte Ihrem Chef, er soll nichts Unüberlegtes tun. Es wird alles gut.«
»Hoffentlich isst er auch was.« Vangelis sah auf die Uhr. »Hungrige Menschen sind unberechenbar.«
»Wir hätten
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