Heidelberger Wut
gegolten.
Balke zuckte die Achseln. Vangelis nickte mit zweifelnder Miene.
Ich nahm die Brille ab und rieb mir die Augen.
»Was ist mit Gasgranaten?«, fragte Balke. »Wir könnten von hier aus problemlos …«
»Ich will nichts mehr davon hören!«, fuhr ich ihm ins Wort. »Er wird aufgeben. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
Warum wollte es mir nicht gelingen, an meine eigenen Worte zu glauben?
Immerzu rotierte dieses Karussell in meinem Kopf. Meine Sarah in der Gewalt eines bewaffneten, vollkommen unzurechnungsfähigen Alkoholikers! Was, wenn Seligmann vorhatte, seinen Untergang möglichst spektakulär in Szene zu setzen? Alles in seinem Leben, was nur schiefgehen konnte, war schiefgegangen. Alle Menschen, die ihm etwas bedeuteten, waren tot oder im Unglück. Was, wenn er es uns anderen, uns Glücklichen, noch einmal zeigen wollte? Ich versuchte, mir meine aufkommende Panik nicht anmerken zu lassen.
»Ihnen geht’s ja wirklich nicht gut«, sagte Vangelis mitfühlend. »Soll ich nicht besser übernehmen?«
Ich schüttelte erschrocken den Kopf. »Es geht schon wieder.«
Endlich ging Frau Glasers Wunsch in Erfüllung – die schwarzen Männer mit den Gewehren kamen. Balke verteilte sie per Telefon auf die umliegenden Gebäude. Einer der Kaugummi kauenden und mit Scharfschützengewehren bewaffneten Kraftprotze bezog Posten bei uns, ein zweiter im Schlafzimmer unserer Gastgeberin, wozu das Bett verschoben werden musste. Nun schien ihr doch ein wenig mulmig zu werden.
»Alles nur zur Sicherheit«, schärfte ich meinen Leuten wieder und wieder ein. »Es wird nichts passieren!«
Das Handy der Sprechstundenhilfe war inzwischen ausgeschaltet, das Praxistelefon tot. Sollte ich es über Sarahs Handy versuchen? Nein, besser nicht. Es war vielleicht günstiger, wenn Seligmann nicht wusste, dass meine Tochter sich in seiner Gewalt befand.
Vangelis und Balke überlegten halblaut, was Seligmanns Plan war.
»Er hat keinen, das ist ja das Problem«, stöhnte ich. »Er wollte nichts weiter, als mit seiner geschiedenen Frau reden. Und wenn der Zahnarzt sich nicht eingemischt hätte, dann wäre vermutlich überhaupt nichts passiert. Jetzt sitzt er in der Falle und kann nicht vor und nicht zurück. Wir können nur warten und hoffen, dass er irgendwann wieder zur Vernunft kommt.«
»Er ist jetzt seit fast zwei Stunden da drin«, sagte Vangelis. »Er könnte doch mal langsam begreifen, dass er sich verrannt hat. Was er wohl die ganze Zeit treibt?«
Plötzlich wurde klar, womit Seligmann seine Zeit verbrachte.
Sönnchen rief an. »Schalten Sie mal schnell das Radio ein, Herr Kriminalrat!«
Seligmann gab Interviews. Offenbar befanden sich dort drüben noch mehr Handys als nur das der Zahnarzthelferin. In kurzen, abgehackten Sätzen versuchte er, der Welt klarzumachen, dass er kein Kinderschänder sei. Dass er noch nie in seinem Leben etwas Schlimmes getan habe. Dass er dies selbstverständlich auch heute nicht vorhabe. Man solle ihm nur zuhören, betonte er wieder und wieder, er müsse doch Gelegenheit bekommen, sich zu rechtfertigen. Das sei doch sein gutes Recht.
Immer wieder brabbelte er von Schuld, die er auf sich geladen habe. Er schien eine regelrechte Manie für dieses Wort entwickelt zu haben. Auch Jules Schicksal wurde angesprochen.
»Wenn ich mich damals nicht auf diese unselige Geschichte eingelassen hätte«, hörte ich ihn mit müder Stimme sagen, »dann wäre alles andere doch niemals passiert.«
Selbst der Journalist, der das Interview führte, hatte leise Zweifel und warf ein, das könnte schließlich keiner wissen. Und strafrechtlich sei Seligmann ja wohl nicht zu belangen.
»Aber darum geht’s doch nicht!«, erwiderte dieser zornig. »Es geht darum, dass ich mich schuldig fühle, verstehen Sie denn nicht?«
»Können wir das nicht abstellen?«, fragte ich entnervt.
»Solange er redet, schießt er nicht«, antwortete Balke ruhig.
So ließen wir das Radio an, aber nach einigen professionellbetroffenen Schlusssätzen des Sprechers erklang bald Musik.
Balke begann wieder zu telefonieren, aber ich achtete nicht darauf, mit wem. Natürlich hatte er Recht: Solange Seligmann Interviews gab, machte er keinen schlimmeren Unsinn. Und wenn es ihm Befriedigung verschaffte, seine Schuldgefühle der Welt zu offenbaren, warum sollten wir ihm die Freude nicht gönnen?
Vor wenigen Stunden erst hatte er Rebecca Braun gefunden, seine letzte, vielleicht nur kleine Liebe, durch ihre eigene Hand gestorben. Er hatte ihr
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