Heidi und andere klassische Kindergeschichten
Vaterunser nötig gehabt hätte, aber manchen, der es mit Angst gesucht und nicht mehr gefunden hat, wenn die Not da war.« Dann standen Stineli und Rico ganz andächtig da und jedes betete ein Vaterunser.
Jetzt war es Mai und eine kleine Zeit mußte die Schule noch dauern, lange konnte es nicht mehr sein, denn es grünte unter den Bäumen und große Strecken waren ganz frei von Schnee. Rico stand schon unter der Tür seit einer guten Weile und stellte diese Betrachtungen an. Dabei schaute er immer wieder nach der Tür drüben, ob sie noch nicht aufgehen wollte. Jetzt ging sie auf und Stineli kam herausgesprungen.
»Bist du schon lang dagestanden? Hast du wieder gestaunt, Rico?« rief es lachend. »Siehst du, heut’ ist es noch früh, wir können langsam gehen.«
Jetzt nahmen sie einander bei der Hand und wanderten der Schule zu.
»Denkst du immer noch an den See?« fragte Stineli im Gehen.
»Ja gewiß«, versicherte Rico mit ernstem Gesicht, »und manchmal träumt es mir auch davon und ich sehe so große, rote Blumen daran und drüben die violetten Berge.«
»Ach, das gilt nicht, was es einem träumt«, sagte Stineli lebhaft; »es hat mir auch einmal geträumt, der Peterli kletterte ganz allein auf die allerhöchste Tanne hinauf, und wie er auf dem obersten Zweiglein saß, da war’s nur noch ein Vogel, und er rief herunter: ›Stineli, zieh mir die Strümpf’ an.‹ Jetzt siehst du doch, daß das nichts sein kann.«
Rico mußte stark nachdenken, wie das sei, denn sein Traum konnte doch sein und war nur wie etwas, das ihm wieder in den Sinn kam. Aber jetzt waren sie nahe beim Schulhaus angelangt und ein ganzer Trupp Kinder lärmte von der anderen Seite daher. Sie traten alle miteinander ein, und bald nachher kam auch der Lehrer. Der war ein alter Mann mit dünnen, grauen Haaren, denn er war schon undenklich lang Lehrer gewesen, so daß ihm darüber die Haare grau geworden und ausgefallen waren. Es ging nun an ein strenges Buchstabieren und Syllabieren, dann kam das Einmaleins an die Reihe und zuletzt kam der Gesang. Da holte der Lehrer seine alte Geige hervor und stimmte sie, und nun ging es an und alle sangen aus voller Kehle:
»Ihr Schäflein hinunter Von sonniger Höh’«,
und der Lehrer geigte dazu.
Nun schaute aber der Rico so gespannt auf die Geige und des Lehrers Finger, wie dieser die Saiten griff, daß Rico darüber ganz das Singen vergaß und keinen Tonmehr von sich gab. Jetzt fiel mit einem Male die ganze Sängerherde einen halben Ton hinunter, da wurde die Geige auch unsicher und fiel nach, und die Sänger fielen noch tiefer, und man kann gar nicht wissen, wie tief hinunter alles miteinander gefallen wäre, – aber jetzt warf der Lehrer die Geige auf den Tisch und rief erzürnt: »Was ist das für ein Gesang! Ihr unvernünftigen Schreier! Wenn ich doch wissen könnte, wer mir so falsch singt und einen ganzen Gesang verdirbt!«
Da sagte ein kleiner Bube, der neben Rico saß: »Ich weiß schon, warum es so gegangen ist; allemal geht es so, wenn der Rico aufhört zu singen.«
Dem Lehrer war es selbst nicht so ganz unbekannt, daß die Geige am sichersten ging, wenn Rico fest mitsang.
»Rico, Rico, was muß ich hören«, sagte er ernsthaft, zu diesem gewandt. »Du bist sonst ein ordentliches Büblein, aber Unachtsamkeit ist ein großer Fehler, das hast du jetzt gesehen. Ein einziger unachtsamer Schüler kann einen ganzen Gesang verderben. Jetzt wollen wir noch einmal anfangen, und daß du aufpassest, Rico!«
Nun setzte Rico mit fester, klarer Stimme ein, und die Geige folgte nach, und alle Kinder sangen aus allen Kräften mit, so daß es ganz herrlich anzuhören war bis zum Schluß. Da war der Lehrer sehr zufrieden und rieb sich die Hände und tat noch ein paar feste Striche auf der Geige und sagte vergnüglich: »Es ist auch ein Instrument danach.«
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Drittes Kapitel.
Des alten Schullehrers Geige.
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Vor der Tür hatten sich Stineli und Rico bald aus dem Rudel herausgemacht und zogen zusammen ihren Weg.
»Hast du vor lauter Staunen nicht mehr mitgesungen, Rico?« fragte jetzt Stineli. »Ist dir etwa auf einmal der See in den Sinn gekommen?«
»Nein, etwas anderes«, sagte Rico; »ich weiß jetzt, wie man spielt: ›Ihr Schäflein hinunter‹. Wenn ich nur eine Geige hätte!«
Der Wunsch mußte Rico schwer auf dem Herzen liegen, denn er kam mit einem tiefen Seufzer heraus. Stineli war gleich ganz voller Teilnahme und unternehmender Gedanken.
»Wir wollen eine kaufen zusammen«,
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