Heidi und andere klassische Kindergeschichten
die Summe vergegenwärtigen? Wir wollen sie gleich einmal in Blutzger auflösen: Enthält ein Gulden 100 Blutzger, so enthalten sechs Gulden 6 × 100 gleich? – gleich? – Nun Rico, du bist sonst keiner von den Ungeschickten, – gleich?«
»Gleich 600 Blutzger«, ergänzte Rico leise, denn der Schrecken versagte ihm die Stimme, nun er die Summe überschaute und Stinelis zwölf Blutzger damit verglich.
»Und dann, Büblein«, fuhr der Lehrer im Zuge weiter fort, »was meinst du? Meinst du, es nimmt einer eine Geige nur in die Hand und spielt? Da muß einer anders dran, bis er so weit ist. Komm gleich einmal da herein« – und der Lehrer machte die Tür auf und nahm die Geige von der Wand –; »da, nimm sie einmal in den Arm und den Bogen in die Hand; so, Büblein, und wenn du mir nun
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herausbringst, so geb’ ich dir gleich einen halben Gulden.« Rico hatte wirklich die Geige im Arm; seine Augen leuchteten auf wie Feuer.
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– spielte er fest und völlig korrekt. »Du Erzblitzbub«, rief der Lehrer vor Bewunderung aus, »woher kannst du das? Wer hat dich’s gelehrt? Wie kannst du die Töne finden?«
»Ich kann noch etwas, wenn ich’s spielen darf«, sagte Rico und schaute mit Verlangen auf das Instrument in seinem Arm.
»Spiel’s!« bedeutete der Lehrer. Jetzt spielte Rico mit aller Sicherheit und freudestrahlenden Augen:
»Ihr Schäflein hinunterVon sonniger Höh’,Der Tag ging schon unter,Für heute ade!«
Der Lehrer hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen und die Brille aufgesetzt. Er schaute mit ernster Prüfung jetzt auf Ricos Finger, dann auf seine funkelnden Augen, dann wieder auf die Finger. Rico hatte fertig gespielt.
»Komm hier zu mir her, Rico!«
Der Lehrer rückte seinen Stuhl ins Licht, und Rico mußte sich gerade vor ihm aufstellen. »So, nun muß ich ein Wort mit dir reden. Dein Vater ist ein Welscher, Rico, und siehst du, dort unten gehen allerhand Dinge, von denen wir hier in den Bergen nichts wissen. Nun sieh mir in die Augen und sag mir aufrichtig und der Wahrheit gemäß: Wie bist du dazu gekommen, diese Melodie ohne Fehler auf meiner Geige zu spielen?«
Rico schaute den Lehrer mit ganz ehrlichen Augen an und sagte: »Ich habe sie Euch abgelernt in der Singschule, wo wir sie so viel singen.«
Diese Worte gaben der Sache eine ganz andere Wendung. Der Lehrer stand auf und ging einige Male hin und her. So war er selbst der Urheber dieser wunderbaren Erscheinung; da waren also keine Schwarzkünste dabei im Spiel. Mit versöhntem Gemüte zog er jetzt seinen Beutel hervor: »Da ist ein halber Gulden, Rico, er gehört dir mit Recht. Nun fahr so fort und sei recht aufmerksam auf das Geigenspiel, solange du zur Schule gehst, so kannst du’s zu etwas bringen, und in zwölf bis vierzehn Jahren wird die Zeit da sein, da du auch eine Geige anschaffen kannst. Jetzt kannst du gehen.«
Rico warf noch einen Blick auf die Geige, dann ging er mit der allertiefsten Betrübnis im Herzen.
Stineli kam hinter dem Holzstoß hervorgerannt: »Diesmal bist du aber lang geblieben, hast du gefragt?«
»Es ist alles verloren«, sagte Rico, und seine Augenbrauen kamen vor Leid so nah zusammen, daß
ein
dicker, schwarzer Strich war über die Augen hin. »Eine Geige kostet sechshundert Blutzger, und in vierzehn Jahren kann ich eine kaufen, wenn schon lange alles tot ist; wer wollte noch am Leben sein in vierzehn Jahren. Da, das kannst du haben, ich will’s nicht.« Damit drückte er den halben Gulden in Stinelis Hand.
»Sechshundert Blutzger!« wiederholte Stineli voller Entsetzen. »Aber woher hast du das viele Geld hier?«
Rico erzählte nun alles, wie es gegangen war bei dem Lehrer, und endete wieder mit dem Worte des größten Leides: »Jetzt ist alles verloren.«
Stineli wollte ihm wenigstens seinen halben Gulden aufdringen als einen ganz kleinen Trost; aber er war ganz ergrimmt über den unschuldigen halben Gulden und wollte ihn nicht ansehen.
Da sagte Stineli: »So will ich ihn zu meinen Blutzgern tun und dann wollen wir das Geld alles miteinander teilen und alles gehört uns zusammen.«
Diesmal war auch Stineli sehr niedergeschlagen; als es aber mit Rico um die Ecke kam, wo es ins Feld hineinging, lag der schmale Fußweg so schön trocken in der Sonne bis zur Haustür hin, und dort flimmerte das Plätzchen davor auch ganz weiß und trocken, und Stineli rief:
»Sieh, sieh, nun wird’s Sommer, Rico, und wir können wieder in den Wald hinauf; dann freut’s dich auch wieder.
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