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Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Spyri
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nirgends mehr finden.«
    Jetzt trat der Rico in den Garten; er mußte ja heut’ Nachmittag fort, und so den ganzen Tag, ohne einmal zu kommen, konnte er’s nicht gut aushalten. Als er gerade nach der Stube gehen wollte, rief ihn Frau Menotti und sagte:
    »Setz dich einen Augenblick hier zu mir; wer weiß, wie lange wir hier noch nebeneinander sitzen werden!«
    Rico erschrak.
    »Warum denn, Frau Menotti, Ihr geht doch nicht fort?«
    Nun mußte Frau Menotti ablenken, ihre Geschichte konnte sie nicht erzählen. Es kam ihr in den Sinn, was Stineli ihr gestern Abend vom Rico gesagt hatte; sie war aber so von ihrer eigenen Sache erfüllt gewesen, daß sie es nicht recht verstanden hatte. Jetzt fing es an, sie ein wenig zu wundern, da es ihr wieder in den Sinn kam.
    »Sag einmal, Rico«, fing sie an, »warst du denn früher schon einmal da, daß du den See wiedersehen wolltest, wie mir gestern das Stineli erzählt hat?«
    »Ja, wie ich klein war«, sagte Rico, »dann kam ich fort.«
    »Wie kamst du denn hierher, als du klein warst?«
    »Hier kam ich auf die Welt.«
    »Was, hier? Was war denn dein Vater, daß er aus den Bergen hier herunterkam?«
    »Er war nicht aus den Bergen, nur die Mutter!«
    »Was du sagst, Rico. Dein Vater war doch nicht von hier?«
    »Doch, er war von hier.«
    »Das hast du alles nicht erzählt, das ist ja so merkwürdig! Du hast doch keinen Namen von hier; wie hieß denn dein Vater?«
    »Wie ich hieß er: Enrico Trevillo.«
    Frau Menotti fuhr von der Bank auf, als treffe sie ein Anfall.
    »Was sagst du da, Rico«, rief sie, »was hast du gerade jetzt gesagt?«
    »Meines Vaters Namen«, sagte Rico ruhig.
    Frau Menotti hatte nicht mehr zugehört, sie war an die Tür gelaufen.
    »Stineli, gib mir ein Halstuch«, rief sie hinein. »Ich muß zum Herrn Pfarrer auf der Stelle, mir zittern alle Glieder.«
    Stineli brachte erstaunt ein Halstuch.
    »Komm ein paar Schritte mit mir, Rico«, sagte Frau Menotti im Weggehen; »ich muß dich noch etwas fragen.«
    Zweimal noch mußte Rico sagen, wie sein Vater hieß, und zum dritten Male fragte Frau Menotti ihn noch an der Tür des Pfarrers, ob er auch sicher sei. Dann trat sie in das Haus ein. Rico kehrte zurück und war verwundert über den Zustand der Frau Menotti.
    Rico hatte seine Geige mitgebracht, er wußte, daß es dem Stineli jedesmal Freude machte, wenn sie mitkam. Als er nun damit in der Stube anlangte, traf er den Silvio und das Stineli in der besten Stimmung; denn Stineli hatte seinem Versprechen gemäß die Geschichte vom Peterli erzählt und damit sich und den Silvio in die größte Heiterkeit versetzt. Als dieser nun die Geige erblickte, rief er gleich: »Nun wollen wir singen, mit dem Stineli wollen wir die Schäflein singen.« Stineli hatte sein Lied nie mehr gehört, seit es entstanden war; denn Rico spielte jetzt viele schöne Weisen, und es hatte lange niemand mehr an das Lied gedacht. Daß aber der kleine Silvio das deutsche Lied singen wollte, überraschte es sehr, denn es wußte nicht, wie viele hundert Male Rico es ihm vorgesungen hatte in den drei Jahren. Stineli hatte die größte Freude, daß es das alte Lied wieder einmal mit Rico singen sollte, und nun ging’s an, und richtig: Silvio sang aus allen Kräften mit, und ohne daß er ein einziges Wort verstand, hatte er sie alle dem Tone nach behalten durch das viele Anhören. Aber diesmal war das Lachen am Stineli; denn Silvio sprach seine Worte meistens so ganz verwunderlich aus, daß es vor Lachen gar nicht singen konnte, und wie nun der Silvio das Stineli so mit dem ganzen Gesicht lachen sah, da fing auch er an, und dann sang er noch vernehmlicher und lauter, daß das Stineli noch mehr lachen mußte, und dazu geigte der Rico mit aller Kraft sein: »Schäflein hinunter«.
    So tönte schon von weitem das singende Gelächter der Frau Menotti entgegen, als sie sich ihrem Garten näherte, und sie konnte nicht recht fassen, wie das so sein konnte in dieser ereignisvollen Stunde. Eilends kam sie durch den Garten und trat in die Stube ein; sie mußte sich gleich auf dem ersten Stuhle niederlassen, denn der Schrecken und die Freude und das Laufen und die Erwartung aller kommenden Dinge hatten sie überwältigt, und sie mußte erst zu sich kommen. Die Sänger waren verstummt und schauten verwundert auf die Mutter. Jetzt hatte sie sich gesammelt.
    »Rico«, sagte sie, feierlicher als sonst, »Rico, sieh um dich! Dieses Haus, dieser Garten, das Feld, alles, was du hier sehen und nicht sehen kannst

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