Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
1.KAPITEL
In den Baumkronen dröhnte ein schwerer Choral. Es brauste und murmelte in tiefen Tönen, als sänge ein Chor von Mönchen in einer riesigen Kathedrale düstere Lieder von Kummer und Unglück. Die Kiefern schwangen im Sturm hin und her, bogen sich, daß die Zweige knackten und knirschten. Ein bleicher Herbstmond kam ab und zu hinter den über den Himmel jagenden Wolken hervor.
Sol lächelte, während sie durch den Wald lief. Das stürmische Wetter hallte in ihr wider wie ein Rausch. Jetzt war sie erwachsen und frei, frei wie der Wind, der durch die Baumwipfel fegte. In der Hand hielt sie Hannas Bündel, das sie an diesem Tag von Tengel zurückbekommen hatte, hielt es fest an ihre Brust gedrückt. Vor ein paar Stunden hatte sie von allen zu Hause auf Gut Lindenallee Abschied genommen. Jetzt war ihre Zeit gekommen.
Ihr kleiner Bruder Are hatte sie auf dem Weg zum Hafen in Oslo begleitet, wo ein Schiff zur Überfahrt nach Dänemark abfahrtsbereit lag. Sie waren gemeinsam den Weg entlang geritten, aber ungefähr auf halber Strecke hatte Sol plötzlich darauf bestanden, allein eine Abkürzung durch den Wald zu nehmen. Are hatte schließlich nachgegeben, sich ihre Reisetruhe aufs Pferd geladen und war mit ihrem Pferd neben seinem weiter geritten, um dann am Ende des Waldes wieder mit ihr zusammenzutreffen. Er wollte trotz allem sichergehen, daß sie wohlbehalten am Schiff ankam.
Charlotte von Meiden hatte Sol zu einer Passage nach Dänemark verhelfen. Das Mädchen sollte eine ältere adelige Dame begleiten, die sich ängstigte, diese lange Schiffsreise ohne Gefolge zu machen. Die Familie hatte diesen Schritt gewagt, weil Sol sich die letzten fünf Jahre mustergültig betragen hatte. Doch nun war sie so rastlos, daß man sie nicht länger zurückhalten konnte.
Doch, sie hatte sich ordentlich betragen. Allein deshalb, um die Erlaubnis zu bekommen, sich ihrem geliebten Handwerk wieder widmen zu können - sobald sie erwachsen war. Ach, es war oft schrecklich schwer gewesen! Jedesmal, wenn sie am Wegesrand Bilsenkraut oder Wasserschierling stehen sah, hatte es ihr in den Fingern gekribbelt. Oder wenn sich jemand ihren Familienangehörigen gegenüber nicht anständig benommen hatte. Einmal hatte sie sogar eine Puppe angefertigt, eine Nachbildung einer der Damen bei Hofe, die sich verächtlich über Charlotte geäußert hatte. Sol war es gelungen, sich eine Haarsträhne dieser Edelfrau zu beschaffen, hatte sie in die Puppe eingenäht und wollte ihr gerade eine Nadel direkt ins »Herz« stechen, als sie sich im letzten Augenblick doch noch eines Besseren besann. Sie durfte das nicht, das hatte sie Tengel hoch und heilig versprochen. Sie hatte die Puppe vernichtet, und ihr gutes Gewissen war damit wieder hergestellt. Trotzdem grämte sie sich, weil sie nicht erfuhr, ob sie noch immer in Besitz ihrer besonderen Kraft war.
Oh ja, die besaß sie noch immer. Für immer! Tengel war sehr zufrieden mit der Arbeit, die sie unter den Kranken verrichtete. Mittlerweile vertraute man ihr genau so sehr wie ihm. Manchmal allerdings hatte sie zu allzu drastischen Mitteln gegriffen, um sie zu kurieren, doch sie war dabei so vorsichtig vorgegangen, daß niemand etwas bemerkt hatte. Und sie hatte auch niemandem geholfen, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, auch nicht, wenn sie den Eindruck hatte, daß einige von ihrem Dasein in Krankheit und Leid befreit werden wollten. Bis auf wenige Male, aber das waren ja nur Bagatellen, die nicht weiter ins Gewicht fielen, dachte sie arglos. Sie hatte es auch nur getan, um nicht ganz aus der Übung zu kommen.
Aber jetzt war die Zeit des Stillhaltens vorüber.
Sie hatte nicht durch den Wald reiten wollen. Sie wollte den Wind in ihrem Gesicht und die Erde unter den Füßen spüren und wissen, daß all das ihr gehörte, sie wollte den Sturm um sich herum hören und dem Mond entgegenlachen.
»Ich bin frei, Hanna«, flüsterte sie. »Ich bin frei! Jetzt beginnt unsere Zeit!«
Ihre eigenen Pläne der Dänemarkfahrt stimmten nicht vollkommen mit denen ihrer Familie überein…
Sie hatte gewisse Erkundigungen eingeholt. Gewiß wurden in Dänemark fast ununterbrochen Hexen gefangen genommen. Es handelte sich aber dabei nur um solche, die von den Nachbarn angezeigt worden waren, gewöhnliche Frauen, die nicht das geringste von der Schwarzen Kunst wußten. Sol hingegen wußte, wo sich die echten Zauberer und Hexen aufhielten. Hanna hatte es ihr gegenüber einmal mit Achtung in der Stimme erwähnt.
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