Heidi und andere klassische Kindergeschichten
erhalten. Er hatte nur eine Geiß und ein Stück Kartoffelland, damit mußte die Frau mit den vier Kleinen den Sommer über auskommen und auch hier und da noch eines der Größeren speisen, wenn es draußen keine Arbeit fand. Der Vater kam im Winter wohl dann und wann heim, aber er brachte wenig mit, denn sein Häuschen und Acker waren so verschuldet, daß er das ganze Jahr über etwas abzuzahlen hatte. Sobald er nur wieder ein wenig Lohn behalten konnte, kam einer, dem er etwas schuldig war und nahm ihm weg, soviel er fand.
So mußte die Frau mit den Kindern oft hungern. Sie selbst konnte keine Ordnung im Haus halten, und die Arbeit ging ihr nie so recht von der Hand. Sie konnte auch manchmal eine ganze Zeitlang auf der verfallenen, kleinen Galerie stehenbleiben. Anstatt zu arbeiten, schaute sie über den Bach zu dem schmucken Häuschen der Sennerin hinüber, dessen Scheiben in der Sonne glänzten. Dann sagte sie ärgerlich vor sich hin: “Ja, die dort kann schon putzen und alles sauberhalten, die hat sonst nichts zu tun, aber unsereiner.” Dann ging sie wieder ärgerlich in die dumpfe, trostlose Stube zurück, und an dem, der ihr zuerst in den Weg kam, ließ sie den Ärger aus.
Das traf nun meistens einen Buben von zehn oder elf Jahren, der nicht ihr eigener war, aber schon seit seiner Geburt im Häuschen vom Hälmli-Sepp wohnte. Dieser kleine Bursche, von jedermann nur ‘der dumme This’ genannt, sah so mager und dürftig aus, daß man ihn kaum für achtjährig gehalten hätte. Er schaute auch so scheu und verschüchtert drein, daß niemand wußte, wie der This eigentlich aussah, denn er blickte immer furchtsam auf den Boden, wenn man zu ihm sprach. This hatte nie eine Mutter gekannt. Sie war gestorben, als er kaum zwei Jahre alt war. Sein Vater war nicht viel später über die Felsen in die Tiefe gestürzt, als er vom Heuholen in den Bergen herunterkam und den Weg abkürzen wollte. Seit dem Sturz war er lahm und konnte nichts mehr tun, als kleine Matten zusammenflechten, die er in dem großen Gasthof oben auf dem Seelisberg verkaufte. Der kleine This hatte seinen Vater nie anders gesehen, als auf einem Schemel sitzend, eine Strohmatte auf den Knien. Alle Leute hatten ihn den lahmen Matthis genannt.
Schon seit sechs Jahren war er tot, und da er im Häuschen vom Hälmli-Sepp eine kleine Kammer als Schlafstätte mit seinem Büblein gemietet hatte, blieb dieser nach des Vaters Tod gleich an demselben Ort. Das wenige Geld, das für den kleinen This von der Gemeinde bezahlt wurde, war der Frau des Hälmli-Sepp sehr erwünscht. Und in die Kammer konnte sie nun noch zwei von ihren Buben stecken, für die schon lange fast kein Platz zum Schlafen mehr da war. Der kleine This war schon von Natur aus ein schüchternes und stilles Büblein gewesen. Seinem Vater, der erst seine Frau verloren, dann das große Unglück gehabt hatte, war aller Lebensmut vergangen. Und hatte er vor seinem Unglück wenig geredet, so sagte er nun fast gar nichts mehr.
So saß der kleine This ganze Tage lang neben seinem Vater, ohne ein Wort zu hören, und so lernte er auch lange keines sagen. Als er dann seinen Vater verloren hatte und nun ganz zu der Familie des Hälmli-Sepp gehörte, da redete er fast gar nicht mehr, denn er wurde von jedem angefahren und hin und her gestoßen, weil er sich nie wehrte. Zu all den Püffen, die er von den Kindern auszustehen hatte, kamen dann noch die bösen Worte der Frau, wenn sie den Ärger über das saubere Häuschen der Sennerin drüben hatte. Der This wehrte sich aber nie, denn er hatte das Gefühl, die ganze Welt sei gegen ihn, und so nutze doch alles nichts. Nach und nach wurde der Bub so scheu und verschüchtert, daß man glaubte, als merke er kaum, was um ihn her vorging. Und meistens gab er auch gar keine Antwort, wenn man ihn anrief. Er sah überhaupt immer so aus, als suche er nach einem Loch, wo er in die Erde hineinkriechen könnte, daß ihn keiner mehr fände.
So war es gekommen, daß die vier Großen vom Hälmli-Sepp, der Jopp, der Hans, der Ulli und Lisi das schon manchmal zu ihm gesagt hatten: “Du bist doch ein dummer This”, und daß es die vier Kleinen auch nachsagten, sobald sie nur reden konnten. Da sich der This niemals dagegen wehrte, so hatten nach und nach alle Leute angenommen, es werde wohl so sein, und er wurde weit und breit nur noch ‘der dumme This’ genannt. Es war auch so, als ob der This nicht arbeiten könnte, wie die andern es taten. Sollte er helfen, die Kühe zu
Weitere Kostenlose Bücher