Heidi und andere klassische Kindergeschichten
nieder. Er hatte das Bewußtsein verloren.
Als am Abend der Melker mit seiner Milch in die Stube trat, sah er,
daß der Franz Anton noch nicht zurückgekehrt war. Er stellte seine
Milch in eine Ecke und ging fort. Er dachte nicht daran, nach dem
Senn auszuschauen.
Es war aber noch jemand da oben, der hatte schon lange auf den Franz Anton gewartet, das war der This. Schon seit ein paar Stunden hatte er an seinem verborgenen Plätzchen gesessen. Er kannte jeden Schritt, den der Senn tat. Er wußte, wie eine Beschäftigung auf die andere folgte, so daß er sich nicht genug wundern konnte, wie lange heute der Franz Anton seine Milch stehen ließ. Sonst goß er sie immer gleich in die verschiedenen Gefäße. Die eine kam zum Buttern in die großen, runden Becken, wo sie stehenblieb, bis aller Rahm schön dick obenauf lag. Die andere wurde in den Käsekessel gegossen, das hatte der This durch die offene Hüttentür alles genau beobachten können. Der Senn kam immer noch nicht. Der Junge fühlte, daß irgend etwas geschehen sein mußte. Er kam jetzt leise aus seinem Versteck heraus und ging zur Sennhütte. Da war es still und leer unten im Hüttenraum und oben auf dem Heuboden. Kein Feuer prasselte unter dem Kessel, kein Laut war zu hören, alles wie ausgestorben. Ängstlich lief der This jetzt um die Hütte herum, einmal hinunter, dann wieder herauf und dann in einer anderen Richtung wieder hinab. Jetzt auf einmal—dort unten erblickte er den Franz Anton, der am Boden lag. This sprang hinzu—da lag sein Freund mit geschlossenen Augen und stöhnte und lechzte wie ein Sterbender. Er sah glühend heiß aus, und seine Lippen waren ganz vertrocknet.
Der This stand einen Augenblick still und starrte, bleich vor Schrecken, auf seinen Wohltäter. Dann stürzte er in schnellem Lauf den Berg hinunter. Franz Anton hatte viele Stunden lang bewußtlos am Boden gelegen. Ein schreckliches Fieber hatte ihn ergriffen. Er litt an einem verzehrenden Durst. Von Zeit zu Zeit kam es ihm in seinem brennenden Verlangen vor, er komme zum Wasser und wolle sich bücken und trinken. Und von der Anstrengung erwachte er für einen Augenblick, denn es war nur ein Fiebertraum gewesen.
Er lag immer noch auf dem Boden und konnte sich nicht rühren. Vergebens lechzte er nach einem Tropfen Wasser. Dann schwand ihm das Bewußtsein wieder, und er träumte, er liege unten im Sumpfloch, wo er heute früh im Vorübergehen noch die schönen Erdbeeren gesehen hatte. Da standen sie noch. Oh, wie sehnte er sich danach! Er wollte die Hand ausstrecken, aber vergeblich, er konnte keine greifen. Aber jetzt hatte er plötzlich eine im Mund. Ein Engel kniete da und hatte sie ihm gegeben—und noch eine und noch eine. Oh, wie tat ihm der Saft gut in dem ausgetrockneten Gaumen! Der Franz Anton schlürfte und schluckte, es war ein unsägliches Labsal. Er erwachte. War das alles Wirklichkeit? Es war kein Traum. Da kniete neben ihm der Engel und steckte ihm wieder eine große saftige Erdbeere in den Mund.
“O du guter Engel, noch eine”, sagte leise der Franz Anton. Aber nicht nur eine, fünf, sechs steckte ihm der Engel in den Mund. Auf einmal flog ein stechender Schmerz über sein Gesicht. Er legte die Hand an die Stirn und konnte nur noch leise sagen: “Wasser”, dann war ihm das Bewußtsein wieder völlig entschwunden. Er konnte nicht einmal mehr die letzte Erdbeere genießen. Jetzt träumte er ganz schreckliche Dinge. Sein Kopf wurde so groß wie sein allergrößtes Butterfaß und dann immer noch größer und so furchtbar schwer, daß er mit Schrecken dachte: “Den kannst du nie mehr allein tragen, man muß starke, hölzerne Stützen unterstellen, wie unter die Apfelbäume, wenn sie zuviel Äpfel tragen.” Und jetzt fühlte er deutlich, daß der Kopf ganz voll Schießpulver war, das hatte einer von hinten angezündet. Nun brannte es da drinnen wie loderndes Feuer, und gleich mußte alles zerspringen. Aber dann kam plötzlich ganz kalt und belebend der Schwemmebach über seine Stirn, über das ganze Gesicht und in den Mund hineingeflossen, und Franz Anton schluckte und schluckte und erwachte.
Es war wahr, eiskalt kam ein Guß nach dem anderen auf Stirn und Gesicht. Dann kam etwas an seinen Mund, und er schlurfte gierig den kühlenden Trank ein. Über ihm standen die funkelnden Sterne, das sah der Franz Anton deutlich. Er wußte auch, daß er noch am Boden lag draußen auf der freien Alm. Aber das konnte doch nicht der Schwemmebach sein, was so über ihn floß
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