Heidi und andere klassische Kindergeschichten
Den hatte sie wohl jetzt vor sich. “Und was willst du denn bei mir?” fragte sie nun erst recht verwundert.
Der This war wieder zu Atem gekommen und richtete nun seinen Auftrag klar und richtig aus. Die Frau erschrak sehr. Noch nie war der kerngesunde Franz Anton krank gewesen. Und daß er nach ihr schickte und nicht selbst herunterkommen konnte, war ein recht schlimmes Zeichen. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie ins Haus, packte in großer Sorge das Nötigste zusammen und kam nach kurzer Zeit mit ihrem großen Korb am Arm heraus.
“Komm”, sagte sie zu This, “wir wollen gleich gehn. Warum mußt du wieder mit?”
“Ich weiß nicht”, antwortete er. Und fast als wäre es etwas Böses, setzte er leise hinzu: “Muß ich nicht den Korb tragen?”
“So, jetzt verstehe ich’s”, sagte die Frau, “der Franz Anton hat daran gedacht, daß ich allerhand mitbringen will.” Sie gab dem This den Korb. Schweigend ging sie nun neben ihm den Berg hinauf, denn sie war tief in ihren Gedanken versunken. Ihr braver Franz Anton war ihr ganzer Stolz und ihre Freude. Sollte er wirklich erkrankt sein? Konnte die Krankheit gefährlich sein? Ihre Angst wurde immer größer, je näher sie der Sennhütte kamen, Jetzt waren sie oben—nur noch einige Schritte—der bekümmerten Mutter zitterten die Knie, sie konnte fast nicht mehr weiter. Jetzt trat sie ein. Es war niemand da. Sie schaute überall umher und zu dem Heuboden hinauf. Dort lag ihr Sohn tief im Heu drinnen, sie konnte ihn nicht recht sehen. Mit klopfendem Herzen stieg sie die Leiter hinauf.
Der This blieb ehrerbietig draußen vor der Tür stehen, nur den Korb schob er in die Hütte hinein. Als die Mutter sich jetzt angstvoll über ihren Sohn beugte, schlug dieser seine blauen Augen auf, streckte ihr fröhlich seine Hand entgegen, setzte sich auf und sagte munter: “Grüß dich Gott, Mutter! Das freut mich, daß du da bist. Ich habe aber geschlafen wie ein Bär, die ganze Zeit, seit der This fortging.” Die Mutter starrte den Sohn an, halb in Freude, halb in Schrecken, sie wußte gar nicht, was sie denken sollte. “Franz Anton”, sagte sie jetzt ernsthaft, “was ist mit dir? Redest du im Fieber, oder weißt du, daß du mich hast holen lassen?”
“Ja, ja, Mutter”, lachte jetzt der Franz Anton, “jetzt bin ich ganz bei mir und das Fieber ist vorbei. Aber alle Glieder zitterten mir noch, ich konnte nicht herunterkommen und wollte doch so gern mit dir reden. Ich fühl’s auch jetzt noch in den Knien zittern, ich käme noch nicht weit.”
“Aber was ist’s denn, was war es denn, Franz Anton? Sag mir’s doch”, drängte jetzt die Mutter und setzte sich auf das Heu neben den Sohn.
“Ich will dir nun alles berichten, Mutter, eins nach dem anderen”, sagte er, indem er sich an einen Heuballen lehnte. “Sieh einmal zuerst dort unten das schmale, magere Büblein an, das kein gutes Stück Gewand auf dem Leib hat, dem keiner ein gutes Wort sagt und den jeder nur den dummen This nennt.”
Die Mutter schaute zu dem This hin, der wie ein Sperber nach dem Senn hinaufspähte, ob er etwa wieder umfallen wolle.
“Und jetzt?” fragte die Mutter gespannt.
“Der hat mir das Leben gerettet, Mutter! Wenn dieses Büblein nicht gewesen wäre, so läge ich jetzt noch draußen auf dem Boden in einem tödlichen Fieber, oder vielleicht wäre es auch schon vorbei mit mir.” Und jetzt erzählte Franz Anton alles, was sich seit gestern nachmittag zugetragen hatte. Wie der This ihn die ganze Nacht nicht verlassen und ihn erquickt und gepflegt hatte, so wie der gescheiteste Mensch auf der Welt es nicht besser hätte tun können.
Die Mutter mußte sich mehrmals die Tränen abwischen. Sie stellte sich vor, wenn ihr Franz Anton allein und verlassen in seinem Durst da draußen gelegen hätte und vielleicht vom Fieber ganz verzehrt worden wäre, und kein Mensch hätte etwas von ihm gewußt. Und jetzt stieg ein Dank und eine Freude in ihrem Herzen auf, daß sie laut ausrufen mußte: “Gott sei Lob und Dank! Gott sei Lob und Dank!” Aber auch eine solche Liebe zu dem armen This überkam sie, daß sie ganz eifrig sagte: “Franz Anton, der This geht mir nicht mehr zur Frau des Hälmli-Sepp zurück! Sicher hat der arme Bub Hunger gelitten, und in Schmutz und Fetzen hat sie ihn laufen lassen. Heute noch nehme ich ihn mit mir, und morgen mache ich ihm ein Gewand, daß man ihn ansehen darf. Er muß es nicht schlecht haben bei uns, wir wollen nicht vergessen, wie er dir geholfen
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