Heidi und andere klassische Kindergeschichten
gesucht, sich selbst zu täuschen mit dem Trost, die Reise habe ihre Nora so sehr angegriffen, daß sie nun gar so blaß und durchsichtig aussehe. Jetzt in der frischen Bergluft werde es gewiß bald anders werden, darauf hatte sie ihre ganze Hoffnung gesetzt.
Soweit hatte die Mutter berichtet, als sie den Hufschlag eines Pferdes vernahm; sie wußte, es war ihr Mann, der von seinen ärztlichen Besuchen heimkehrte. Augenblicklich ging sie ihm entgegen und benachrichtigte ihn davon, daß die erwartete Dame mit dem kranken Kinde angekommen sei. Der Doktor machte sich auch, nachdem er vom Pferde gestiegen, gleich wieder auf den Weg, um seinen ersten Besuch bei der neuen Patientin zu machen. Er hatte eine Wohnung gefunden, die, soweit es überhaupt in dieser ländlichen Gegend möglich war, den Wünschen entsprach, welche sein Freund, der Arzt am Rhein, für die Kranke und ihre Mutter ausgesprochen hatte. Erst spät am Abend kehrte der Doktor wieder zurück, als die Kinder schon verschwunden waren, nicht ohne daß Fred noch seinen Zweck erreicht hatte. Die letzte halbe Stunde lang war er unausgesetzt mit seinem Buch unterm Arm der Tante auf Schritt und Tritt nachgegangen, um den geeigneten Augenblick zur Mitteilung wahrzunehmen, was heute, wie schon öfter, längere Zeit erforderte, denn die Tante war wieder einmal von allen Geschwistern zugleich in Anspruch genommen, während auf der einen Seite die Mutter und auf der anderen die Kathri zu gleicher Zeit noch einen Rat von ihr begehrten. Aber Fred hatte viel Beharrlichkeit und er konnte auch heute sich beruhigt niederlegen, denn er hatte die Tante trotz allen Nebenansprüchen an sie noch mit den sämtlichen Lebensbedingungen des Wasserfrosches bekannt gemacht.
Der Doktor hatte sich jetzt zu seinem Nachtessen gesetzt. Mutter und Tante saßen neben ihm und erwarteten mit Spannung seine Mitteilungen über die junge Kranke: wie er ihren Zustand gefunden habe und ob er die Hoffnung hege, der Sommeraufenthalt werde die gewünschte Genesung bringen. Aber der Doktor schüttelte den Kopf. »Da ist wenig zu hoffen«, sagte er, »es ist keine Lebenskraft in dem Pflänzchen. Es handelt sich nicht um heruntergekommene Kräfte, sondern um den völligen Mangel derselben von Anfang an. Ob unsere Bergluft Wunder tun kann, wollen wir sehen; ohne ein solches ist keine Hilfe.«
Diese Nachricht stimmte die Frauen sehr traurig; sie hatten ja beide gesehen, wie schwer der armen Mutter die Trennung von ihrem Kinde werden würde. Sie hielten beide noch an der Hoffnung fest, die stärkende Luft werde ihre wohltuende Wirkung auf das kranke Kind um so eher ausüben, als sie für dasselbe ganz neu und ungewohnt war.
»Emmi soll das Kind besuchen und es kurzweilen und aufheitern«, sagte der Doktor wieder; »die hat ja immer zuviel Zeug im Kopf, da kann sie etwas ablagern und stiftet unterdessen keine ihrer beliebten Unternehmungen an, die alle in irgendein Unheil auslaufen. Dieses Wesen wird sie höchstens zum Erstaunen bringen, aber gewiß zu keiner Mitwirkung hinreißen; so ist es für beide gut, wenn sie recht oft hingeht.«
Die Mutter stimmte bei, Emmi sollte so oft als möglich die kranke Nora besuchen; der Gedanke war der Mutter selbst sehr lieb; sie zweifelte nicht daran, daß zwischen den Kindern ein Freundschaftsverhältnis entstehen werde, das für beide sehr wohltätig werden müßte. Die stille, zarte Nora könnte einen besänftigenden Einfluß auf das rasche und stürmische Wesen ihrer Emmi ausüben, und diese mit ihrer frischen, lebendigen Weise müßte neue, frohe Gedanken und Erheiterung in das einförmige Leben der jungen Kranken bringen.
Als später der Doktor auf seiner Stube noch allerlei Vorbereitungen für den folgenden Tag traf, saßen Mutter und Tante wie gewöhnlich beim großen Flickkorb zusammen, besprachen die Ereignisse des Tages und erzählten sich gegenseitig alle Erlebnisse, die sie heute mit den Kindern gehabt, und alle Beobachtungen, die sie an ihnen gemacht hatten. Dies war für die Schwestern die einzige Zeit des Tages, daß sie zu einem ruhigen Aussprechen kamen, was ihnen ein großes Bedürfnis war; denn da waren so viele Angelegenheiten, für die sie gemeinschaftlich lebten und handelten. Vor allem die Kinder mit all ihren Freuden und Schmerzen, ihren Wünschen und Bedürfnissen, dann die Kranken, die von nah und fern ins Haus kamen, und endlich alle Trost-und Hilfsbedürftigen der ganzen Umgegend, die mit allen ihren Bedrängnissen dahin kamen, wo sie
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