Heidi und andere klassische Kindergeschichten
dort konnte sie auf die hellen, schäumenden, rastlos wandernden Wellen des Bergflusses sehen, und gegen Sonnenuntergang schaute sie so gern nach dem leuchtenden Abendhimmel und den golden schimmernden Hügeln davor.
Jetzt erblickte Nora ein Mädchen, das den Hügel herauf ihrem Hause zueilte. Sollte das die Emmi sein? Mit größter Verwunderung sah Nora, wie das Kind, ohne abzusetzen, in Sprüngen den ganzen Rain heraufgerannt kam. Das war ihr unbegreiflich; sie meinte, nun müsse es umfallen vor Erschöpfung. Aber im nächsten Augenblick klopfte es, und hereingelaufen kam dasselbe Kind mit glühend roten Wangen und einem großen Strauß von roten und blauen Blumen in der Hand, den ein dicker, runder Arm sofort der blassen Nora entgegenstreckte. Die Eingetretene war Emmi. Frau Stanhope begrüßte sie freundlich und hieß sie sich zu Nora hinsetzen, die dankend den Strauß in Empfang genommen hatte. Die beiden Kinder boten einen sehr verschiedenen Anblick dar, wie sie so einander gegenübersaßen. Die rotbackige Emmi, mit ihren vollen, runden Armen und dem ungestümen Leben in jeder Bewegung, ließ die zarte, schmächtige Nora noch schmaler und durchsichtiger erscheinen, so als könnte ein leiser Windhauch sie wegwehen wie ein zartes Rosenblättchen. Frau Stanhope schaute eine kleine Weile auf die Kinder, dann wurden ihre Augen naß und sie ging in das anstoßende Zimmer hinüber.
»Wo hast du die frischen Blumen geholt?« fragte jetzt Nora ihren Gast.
»Auf der Wiese, jetzt im Herkommen«, entgegnete Emmi; »o, jetzt hat es so viele rote Margeriten und Glitzerblumen und blaue Vergißmeinnicht, o, so viele, du solltest nur sehen, ganze Büsche! Sobald du gesund bist, gehen wir miteinander in die Vergißmeinnicht und dann in die Erdbeeren und nachher in die Heidelbeeren.«
Nora schüttelte den Kopf, und mit großen, ernsten Augen sagte sie: »Darauf kann ich mich nicht freuen.«
Emmi war sehr erstaunt, denn sie kannte nichts Herrlicheres; doch jetzt kam ihr ein erklärender Gedanke.
»Das kennst du gewiß alles gar nicht, Nora, vielleicht hat es bei euch keine Vergißmeinnicht und Erdbeeren, aber wart nur, bis du kommen kannst, du wirst dich einmal freuen! Du begreifst nicht, wie es dann zugeht; man kann fast nicht mehr heim, so schön ist’s dann immer.«
»Ja, man meint nur immer, es ist so schön draußen«, sagte Nora nachdenklich; »aber wenn man draußen ist, wird man gleich so müde, so schrecklich müde, und alle Freude ist aus.«
Emmi schaute so verwundert auf die Nora, als spreche diese auf einmal eine Sprache, die ihr völlig unverständlich war. Emmi war niemals müde; jeden Abend war ihr größtes Leid, daß der Tag schon wieder zu Ende war und sie nicht noch dahin und dorthin rennen konnte, auch wenn sie schon den ganzen Tag umhergerannt war. In ihrer großen Verwunderung schaute sie die Nora eine ganze Weile an. Da mußte ihr denn aus ihrem Anblick ein Gedanke klar geworden sein; auf einmal sagte sie ganz erleichtert: »O, jetzt weiß ich schon, warum du das meinst; weißt du, du bist nun krank, aber wart nur, bis du wieder gesund bist, dann kommt’s ganz anders, dann hast du’s wie ich und wirst gar nie mehr müde.«
Aber Nora schüttelte wieder den Kopf: »Das war nie so bei mir, ich war immer müde, ich kann mich gar nicht darauf freuen, daß es so werde, wie bei dir; es kommt doch nicht.«
Der Emmi wurde es ganz angst. »Ja, aber du mußt dich doch auf etwas freuen können, man muß doch jeden Abend an etwas denken, worauf man sich freuen kann für den folgenden Tag; und darum mußt du es glauben, daß dich mein Papa ganz gesund machen wird, sonst kannst du dich ja auf gar nichts freuen, und dann wirst du immer trauriger.«
»Ich freue mich schon auf etwas, und immer wenn ich so müde bin und die anderen so lustig springen sehe, wie dich eben den Berg hinauf, denk’ ich daran und freue mich darauf, wie es dann im Himmel ist, noch viel schöner, als hier; so schöne Blumen sind dort, Rosen und Lilien, die gar nie welken, und alle Menschen sind froh und gesund für immer. Freust du dich nicht auch, in den Himmel zu gehen?«
Emmi wußte nicht recht, was sagen. Sie glaubte schon, daß es im Himmel so schön sei, aber sie wollte eigentlich doch lieber dableiben; da gab es ja so vieles für sie, sich daran zu freuen, daß sie gar nicht darüber hinauskam. Nora schaute sie erwartend an, sie verlangte sichtlich nach ihrer Antwort. Endlich sagte Emmi: »Ich habe noch nie daran
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