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Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Spyri
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in dem Gedanken, daß sie ein paar Wochen lang nicht mehr den schweren Hanseli auf dem Arm des fast zusammenbrechenden Kindes erblicken müsse.

Sechstes Kapitel.
Die Tante wird neuerdings in Anspruch genommen.
    ----
    Am folgenden Tag trat das Elsli nach elf Uhr ganz leise in das Haus auf dem Eichenrain ein. Die Tür des Wohnzimmers stand offen, und Nora, die in ihrem Sessel saß, schaute eben auf die Seite der offenen Tür hin und erblickte auf einmal das Elsli; hereintreten hatte sie es nicht gehört. Nora schaute erstaunt nach dem Kinde hin. Das Elsli sah anmutig aus; es hatte sich heute sorgsam seine hellbraunen Haare glatt gestrichen, nur um die Stirn herum kräuselte es sich leicht. Die Mutter hatte auch ein sauberes Schürzchen und ein Tüchlein um den Hals erlaubt, weil es zu der Herrschaft gehen mußte. Das schmale Gesichtchen war blaß und sah ernsthaft aus, schüchtern schauten die sanften blauen Augen zu Nora hin. Sie konnte sehen, das Kind wußte nicht, ob es in das Zimmer eintreten durfte oder nicht.
    »Komm«, winkte ihm Nora, und als nun das Elsli vor sie getreten war, ebenso leise, wie es seinen Eintritt ins Haus gemacht hatte, fragte sie: »Bist du das Kind, das die Ausgänge für uns machen soll?«
    Elsli bejahte es. Seine Stimme hatte einen leisen, weichen Ton und das ganze Elsli hatte etwas Leises, Zartes an sich, das der Nora gefallen mußte. Auf einmal streckte sie ihm ihre Hand entgegen und sagte: »Komm, sitz hier zu mir her, wir wollen ein wenig reden miteinander.«
    Das Elsli gehorchte.
    »Nicht wahr, du heißest Elsli?« fing die Nora wieder an. »Die Mama hat dich kommen lassen, daß du Seide holst und Eier und Bleistifte für mich und noch einiges; aber jetzt kannst du schon noch ein wenig hier bei mir bleiben; oder wirst du dann etwa zu müde, wenn du noch alles holen mußt vor Mittag?«
    »O nein, davon werde ich nicht müde«, entgegnete das Elsli, »ich würde schon anders müde daheim, denn ich müßte gleich mit den Buben hinaus und den Hanseli auf den Arm nehmen.«
    »O dann weißt du gewiß gut, wie es ist, wenn man müde ist, so recht müde, nicht wahr?« fragte Nora ganz gespannt.
    »O ja, das weiß ich schon ganz gut«, versicherte das Elsli. »Ich bin fast immer müde, aber manchmal so stark, daß ich am liebsten nur niederliegen wollte und gar nicht mehr aufstehen. Der Hanseli wird jetzt so furchtbar schwer, daß ich ihn fast nicht mehr tragen kann; aber er will nicht auf den Boden, er will auf meinem Arm sein, sonst schreit er ganz laut und wird furchtbar bös.«
    »O Elsli, so weißt du so gut, wie es ist, so schrecklich müde zu sein!« rief Nora ganz erfreut aus über das Verständnis, das sie gefunden hatte. »O ich bin so froh, jetzt kann ich so gut mit dir von allem reden, du weißt nun ganz, wie es ist. Ja, nicht wahr, man möchte nur niederliegen und gar nicht mehr aufstehen, bis etwas ganz anderes käme, etwas ganz Neues, daß man nicht mehr müde sein könnte, nicht wahr, Elsli?«
    »Es käme nichts Neues, zuletzt müßte man doch wieder aufstehen«, meinte das Elsli.
    »Nein, ich meine nicht so, wie du meinst; ich meine: niederlegen und sterben, möchtest du nicht auch gern sterben Elsli?«
    »Nein, ich meine, ich wollte lieber nicht, ich habe nie daran gedacht. Warum meinst du?«
    »O, dann weißt du nur nicht, wie es dann sein wird. Die Klarissa hat mir alles so schön erzählt, und wir haben immer miteinander davon geredet. Aber mit Mama darf ich nie davon reden, sie weint gleich so schrecklich und wird traurig für viele Tage. Aber dir will ich nun alles erzählen, und du wirst sehen, wie du dich freuen wirst, in den Himmel zu gehen. Und das schöne Lied von der Klarissa will ich dich auch lehren; soll ich dir’s gleich jetzt sagen?«
    Elsli war ganz bereit, das Lied anzuhören; aber jetzt trat Frau Stanhope in das Zimmer ein und begrüßte das Kind mit einigem Staunen, denn sie konnte sich nicht erklären, wie es kam, daß die beiden Kinder so nah zusammensaßen und so vertraut miteinander redeten, als hätten sie sich schon lange gekannt. Noch mehr aber mußte sie sich verwundern, als Nora gleich sagte: »O Mama, nicht wahr, mit der Seide kannst du schon warten, und die Bleistifte brauch’ ich gewiß heute nicht, und nach den Eiern habe ich auch schon keine Lust mehr, und das andere kann ja wohl nachher das Küchenmädchen besorgen; ich wollte so gern, daß Elsli jetzt bei mir bliebe.«
    »Gewiß soll das Kind bei dir bleiben, wenn es dir Freude macht«,

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