Heidi und andere klassische Kindergeschichten
sagte die Mutter, selbst erfreut, daß die gewöhnlich teilnahmlose Nora einmal wieder mit Lebhaftigkeit nach etwas verlangte. »Überdies«, fügte sie hinzu, »kommt auch am Abend das Kind wieder, da bleibt immer noch Zeit zum Ausgehen.«
Diese Mitteilung machte die Augen der beiden Kinder zu gleicher Zeit aufleuchten. Nora sah die langen, bangen Stunden des Tages von einem neuen, herzerwünschten Verkehr belebt; dem Elsli kam es vor wie ein großes Fest, so in Ruhe und Stille neben der Nora sitzen zu dürfen, die so freundlich zu ihm war. Da die Mutter aber dablieb, fing Nora nicht mehr von ihrem Lied zu reden an; sie wußte ja so gut, was die Mutter betrübte, und wich sorgfältig aus, ihr von diesen Dingen zu sprechen. Das machte aber die Nora oft stiller, als die Mutter wünschte, denn in seinen Gedanken bewegte das Kind immer wieder alles, was die gute Klarissa schon seit langer Zeit mit den lebendigsten Farben in sein Herz einzuprägen gesucht hatte. Klarissa war erfahren in vielen Dingen; sie hatte den Zustand der hinschwindenden Nora wohl erkannt und wollte dem Kinde das Land, wohin es ging, so lieb machen, daß es ihm nicht schwer werden sollte, von der Erde wegzugehen. Und da die Liebe und Hoffnung zu jenem Lande das Leben der Klarissa selbst erfüllten, war es ihr nicht schwer geworden, sie auch in dem empfänglichen Herzen der Nora wachzurufen.
Das Elsli sollte nun von seinem Leben daheim und von seinen Geschwistern erzählen, und dadurch kam es denn gleich auf seinen Bruder Fani zu sprechen und hörte gar nicht wieder auf damit, solange es überhaupt erzählen mußte. Für den Fani hatte das Elsli eine solche Liebe und Bewunderung, daß es nie genug bekam, zu schildern, wie gut und nett und wie geschickt der Fani sei und wie er ihm in seinen Schularbeiten beistehe und wie es gar nicht wüßte, wie es ohne den Fani leben könnte. Es könnte dann auch gewiß nie mehr fröhlich sein; aber wenn es noch so müde und traurig sei und der Fani dann heimkomme, so könne er es gleich wieder froh machen, weil er selber immer so sei und so schöne Sachen immer vor sich sehe in der Zukunft, und so voller Freude und Erwartung davon reden könne, daß es auch gleich das Vertrauen ins Herz bekomme, wenn es gerade noch gedacht habe, es könne nie, nie mehr froh werden und es müsse immer Angst und Sorge haben und so müde sein.
Frau Stanhope hörte gern zu, wie das Elsli mit seiner leisen Stimme und dem sanften Ausdruck der tiefblauen Augen von seinem Leben erzählte.
Nora folgte ganz gespannt jedem Worte, das es sprach; sie dachte sichtlich den Worten viel weiter nach, als das Elsli selbst tat im Erzählen, und man konnte sehen, daß sie mit dem größten Interesse und Wohlgefallen Elslis Mitteilungen anhörte. Als Frau Stanhope zuletzt sagte: »Du kannst nun nach Hause gehen, Kind, nach vier Uhr erwarten wir dich wieder«, da fügte die Nora gleich bei: »Komm dann auch bald, Elsli, und sag deiner Mutter, daß du erst um acht Uhr heimkommst.«
Elsli versprach, gehorsam alles zu tun, und ging mit frohem Herzen davon; es hatte erwartet, die fremde Kranke würde kaum mit ihm reden und es müßte nur allerlei Sachen herbeiholen. Nun war das kranke Kind so freundlich zu ihm gewesen, und die Dame, vor der es sich ein wenig fürchtete, auch, so daß es ein großes Dankgefühl im Herzen hatte. Um vier Uhr lief das Elsli schleunigst vom Schulhaus weg und sagte nicht einmal der Emmi Lebewohl, vor Furcht, es könnte noch aufgehalten werden, und es hatte ja versprochen, sogleich nach dem Eichenrain zu kommen. Die Befürchtung war auch nicht umsonst: es hörte, wie jemand ihm mit aller Macht nachrannte und seinen Namen rief. Es war der Feklitus, Elsli kannte seine Stimme wohl.
»Wart! wart! Willst du warten, wenn ich etwas mit dir will?« rief er befehlend hinter ihm her.
»Nein, nein, ich kann nicht«, rief das Elsli zurück, »ich habe versprochen«, und es rannte davon wie ein Reh. Eine Zeitlang rannte der Feklitus nach, sichtlich in großem Zorn, der ihn zu fortwährenden Drohworten drängte, die er dem Elsli nachrief, was aber seinen Lauf nur erschwerte; keuchend und zornglühend stand er endlich still und erkannte nun, daß er das dahinfliegende Elsli doch nicht erreichen würde. Nun kehrte er grollend um, er hatte sichtlich einen besonders triftigen Grund gehabt, dem Kinde nachzulaufen, um so mehr war er über die vereitelte Bemühung ergrimmt.
Das Elsli mußte erst lang Atem holen, ehe es in das Haus auf dem
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