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Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Spyri
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jetzt gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was uns wieder froh macht.”
    Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: “Darf man ihm alles, alles sagen?”
    “Alles, Heidi, alles.”
    Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
“Kann ich gehen?”
    “Gewiss! Gewiss!”, gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum Großvater.—
    Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: “Mein lieber Herr Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir, hier”—sie rückte ihm den Stuhl zurecht. “So, nun sagen Sie mir, was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?”
    “Im Gegenteil, gnädige Frau”, begann der Herr Kandidat; “es ist etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner, der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat, gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden—”
    “Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?”, setzte hier Frau Sesemann ein.
    In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
    “Es ist ja wirklich völlig wunderbar”, sagte er endlich, “nicht nur, dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen, und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen, sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende Tatsache als Möglichkeit vermutete.”
    “Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben”, bestätigte Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; “es können auch einmal zwei Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat. Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf guten Fortgang hoffen.”
    Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: “Ja, ja, nun gehört es dir.”
    “Für immer? Auch wenn ich heimgehe?”, fragte Heidi ganz rot vor
Freude.
    “Gewiss, für immer!”, versicherte die Großmama; “morgen fangen wir an zu lesen.”
    “Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi”, warf Klara hier ein; “wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst du erst recht bei mir bleiben.”
    Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war

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