Heidi und andere klassische Kindergeschichten
eine so erschreckliche Beschreibung von der Alp gemacht, als er von Deinem Begleit nach Hause kam, wie furchtbare Felsen dort herunterstarren und man überall in Klüfte und Abgründe niederstürzen könne und daß es so steil hinaufgehe, daß man auf jedem Tritt befürchten müsse, wieder rücklings herunterzukommen, und daß wohl Ziegen, aber keine Menschen ohne Lebensgefahr da hinaufklettern können. Sie hat sehr geschaudert vor dieser Beschreibung, und seither schwärmt sie nicht mehr für Schweizerreisen wie früher. Der Schrecken ist auch in die Tinette gefahren, sie will auch nicht mit. So kommen wir allein, Großmama und ich; nur Sebastian muß uns bis nach Ragaz begleiten, dann kann er wieder heimkehren.
Ich kann es fast nicht erwarten, bis ich zu Dir kommen kann.
Lebe wohl, liebes Heidi, die Großmama läßt Dich tausendmal grüßen.
Deine treue Freundin Klara.
Als der Peter diese Worte vernommen hatte, sprang er von dem Türpfosten weg und hieb mit seiner Rute nach rechts und links so rücksichtslos und wütend drein, daß die Geißen alle im höchsten Schrecken die Flucht ergriffen und den Berg hinunterrannten in so maßlosen Sprüngen, wie sie noch selten gemacht hatten. Hinter ihnen her stürmte der Peter und hieb mit seiner Rute in die Luft hinein, als habe er an einem unsichtbaren Feinde einen unerhörten Grimm auszulassen. Dieser Feind war die Aussicht auf die Ankunft der Gäste aus Frankfurt, welche den Peter so sehr erbittert hatte.
Das Heidi war so voller Glück und Freude, daß es durchaus am andern Tage der Großmutter einen Besuch machen und ihr alles erzählen mußte, wer nun von Frankfurt kommen und besonders auch, wer nicht kommen werde. Das mußte für die Großmutter ja von der größten Wichtigkeit sein, denn sie kannte die Personen alle so genau und lebte mit dem Heidi alles, was zu seinem Leben gehörte, immerfort mit der tiefsten Teilnahme durch. Es zog auch beizeiten aus am folgenden Nachmittag, denn jetzt konnte es seine Besuche schon wieder allein unternehmen: Die Sonne schien ja wieder hell und blieb lange am Himmel stehen, und über den trockenen Boden hin war es ein herrliches Bergabrennen, während der lustige Maiwind hinterhersauste und das Heidi noch ein wenig schneller hinunterjagte. Die Großmutter lag nicht mehr zu Bett. Sie saß wieder in ihrer Ecke und spann. Es lag aber ein Ausdruck auf ihrem Gesicht, als habe sie es mit schweren Gedanken zu tun. Das war so seit gestern abend, und die ganze Nacht durch hatten diese Gedanken sie verfolgt und nicht schlafen lassen. Der Peter war in seinem großen Grimm heimgekommen, und sie hatte aus seinen abgebrochenen Ausrufungen entnehmen können, daß eine Schar von Leuten aus Frankfurt nach der Almhütte hinaufkommen werde. Was dann weiter geschehen sollte, wußte er nicht, aber die Großmutter mußte weiterdenken, und das waren gerade die Gedanken, die sie ängstigten und ihr den Schlaf genommen hatten.
Jetzt sprang das Heidi herein und gerade auf die Großmutter zu, setzte sich auf sein Schemelchen, das immer dastand, und erzählte ihr mit einem solchen Eifer alles, was es wußte, daß es selbst noch immer mehr davon erfüllt wurde. Aber auf einmal hörte es mitten in seinem Satze auf und fragte besorgt:
»Was hast du, Großmutter, freut dich alles gar kein bißchen?«
»Doch, doch, Heidi, es freut mich schon für dich, weil du eine so große Freude daran haben kannst«, antwortete sie und suchte ein wenig fröhlich auszusehen.
»Aber Großmutter, ich kann ganz gut sehen, daß es dir angst ist.
Meinst du etwa, Fräulein Rottenmeier komme doch noch mit?« fragte das
Heidi, selber etwas ängstlich.
»Nein, nein! Es ist nichts, es ist nichts!« beruhigte die Großmutter. »Gib mir ein wenig deine Hand, Heidi, daß ich recht spüren kann, daß du noch da bist. Es wird ja doch zu deinem Besten sein, wenn ich es auch fast nicht überleben kann.«
»Ich will nichts von dem Besten, wenn du es fast nicht überleben kannst, Großmutter«, sagte das Heidi so bestimmt, daß dieser mit einemmal eine neue Befürchtung aufstieg. Sie mußte ja annehmen, daß die Leute aus Frankfurt kämen, das Heidi wiederzuholen, denn da es nun wieder gesund war, konnte es ja nicht anders sein, als daß sie es wiederhaben wollten. Das war die große Angst der Großmutter. Aber sie fühlte jetzt, daß sie es vor dem Heidi nicht merken lassen sollte. Es war ja so mitleidig mit ihr, und da könnte es sich vielleicht widersetzen und nicht gehen wollen, und
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