Heidi und die Monster
stillschwieg, bis sie die Almhütte erreichten. Es hoffte, den Großvater auf seiner Bank sitzen zu sehen, denn es wollte ihm erzählen, was es Wunderbares, aber auch Furchteinflößendes erlebt hatte. Die Bank war leer und die Tür der Hütte verschlossen. Auch im Stall traf Heidi den Öhi nicht an.
»Wo ist er?«, fragte es, während Peter Schwänli und Bärli versorgte und das Gatter sorgfältig schloss.
»Heu machen«, antwortete er und schien es plötzlich eilig zu haben, mit der Herde weiterzukommen.
»Nein, gewiss nicht.« Heidi zeigte in den Schober, wo die Sommermaht schon eingefahren war; bis unters Dach presste sich das duftende Heu.
»Wird bald kommen.« Peter pfiff, und die Geißen folgten ihm talwärts.
»Kann ich morgen wieder mit dir?«, rief Heidi ihm nach.
»Frag den Öhi«, tönte die Antwort. Schneller, als man Peter sonst kannte, sprang er fort, als wollte er die Hütte schleunig hinter sich lassen. Vom Gatter warf er noch einen Blick zurück. Da stand Heidi allein vor der Hütte, allein auf der Wiese, wo es grau und dämmerig wurde, und die Dämmerung war die Zeit, zu der die Niänenüütli hervorkamen,
weil ihre grausige Futtersuche begann. Dennoch konnte Peter unmöglich bleiben.
Über der Hütte, hinter den Tannen, zwischen moosigen Felsen verborgen, lag ein verfallener Schupfen. Seine Grundpfosten waren vom Schwamm befallen, die Balken wurmstichig, die Bretter vermorscht. Vor Zeiten, als der Öhi noch mehr Vieh gehabt hatte, war dort die Sommerstreu eingelagert gewesen. Jetzt wurde der Schopf seit langem nicht mehr benutzt. Dennoch kniete der Großvater in der brüchigen Scheuer, wo von allen Enden der Wind hereinpfiff, hatte den Kopf gesenkt und betete. Er fühlte, wie sich der Tag aus den Bergen davonschlich und jeden Hang und jede Schlucht mit Schatten erfüllte und den kühlen Hauch des Abends. Jeden Tag, wenn das lichte Leben Abschied nahm und die Nacht das Gebirg wie ein kleines Sterben überzog, war der Großvater hier.
An diesem erbärmlichen Ort, dieser menschenunwürdigen Zuflucht, ersehnte jemand seinen Beistand. Aus eingesunkenen Augenhöhlen sah es ihn an, den knorrigen Alten, der die einzige, letzte Hoffnung dieses Wesens war. Seine Haut war grau, die Wangen fielen von seinen Knochen ab, dass man die blanken Zähne darunter sah. Sein Haar war spröde wie Werg und sein Leib befallen vom Hauch der Verwesung. Diese verdammte, von Gott vergessene Kreatur war einstmals die fröhlichste, schönste Frau im Dörfli gewesen, die Frau des Bäckers. Heute hätte jeder, der ihr begegnet wäre, nur einen Namen für sie gewusst und ihr schleunig den Garaus gemacht.
Der Alm-Öhi kniete und betete, weil in seinem Herzen die unaussprechliche Hoffnung war, dies eine Mal das Unabwendbare
abzuwenden. Er schlug das Kreuzzeichen und stellte der Bäckersfrau eine Schale hin. Täglich brachte er ihr diese Milch, keine gewöhnliche Milch, und sie trank täglich davon. Erst nachdem es ganz dunkel geworden war, kehrte er in die Hütte zurück, machte Licht und ließ sich vom Heidi erzählen, wie die Berge in Flammen gestanden hatten.
»Das war so schön, Großvater, das Feuer und die blauen und gelben Blumen, und sieh, was ich dir bringe!« Damit schüttete es seinen Reichtum aus dem Schürzchen vor den Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Sie waren wie Heu, und kein einziger Kelch stand mehr offen.
»Großvater, was haben sie?«, rief Heidi erschrocken.
Er dachte an Tod, und er dachte an Verderben; sanft aber sagte er zu dem Kind: »Sie wollen draußen stehen in der Sonne, denn im Dunkeln, da muss doch ein jedes sterben.«
Kapitel 4
Als es Herbst wurde und Heidi mit Gottes Hilfe noch keinem Niänenüütli zum Opfer gefallen war, fing der Wind zu sausen an über den Bergen, und der Großvater sagte: »Heute bleibst du daheim und ziehst nicht mit auf die Weide. Ein Kleines wie du kann der Sturm mit einem Ruck über die Felsen hinabwehen.«
Als der Peter das vernahm, sah er unglücklich aus; er wusste gar nichts mehr anzufangen, wenn Heidi nicht bei ihm war, und die Geißen wurden ohne das Heidi so störrig, dass er die doppelte Mühe mit ihnen hatte. Heidi aber war selten unglücklich, immer sah es etwas Erfreuliches vor sich; wenn der Großvater die schönen runden Geißkäschen zubereitete zum Beispiel, wobei er die Ärmel aufkrempelte und im großen Kessel herumrührte. Dann durfte Heidi ihm helfen. Vor allem liebte es an windigen Tagen das Rauschen der Tannen hinter
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