Heidi und die Monster
2
»Guten Abend, Großvater«, sagte Heidi, nachdem sie Tante Dete den steilen Abhang hinunter hatte verschwinden sehen.
»So. Wie ist das gemeint?« Der Alte schaute das Kind mit einem durchdringenden Blick an. Heidi gab den Blick ausdauernd zurück, ohne einmal zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und den dichten Brauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie ein Gesträuch, war so verwunderlich anzuschauen.
Die Begegnung des Alm-Öhi mit Tante Dete war kurz und heftig ausgefallen.
»Ich wünsche Euch guten Tag«, hatte Dete ihn gegrüßt. »Hier bring ich das Kind Eurer seligen Tochter Adelheid.«
»Selig ist Adelheid nicht«, hatte der Großvater zur Antwort gegeben. »Noch ist sie nicht selig.« Er hatte sich auf die selbstgezimmerte Bank gesetzt. »Was soll das Kind bei mir?«
»Ich habe, denk ich, das Meinige am Heidi getan, sieben Jahre hindurch, seit dem Tod Eurer unglücklichen Tochter. Es ist jetzt an Euch, das Eurige auch einmal zu tun.«
Der Alte hatte einen blitzenden Blick auf die Dete geworfen.
»Ist das Heidi gebissen worden?« Mit seiner geschwungenen Pfeife hatte er ins Tal gezeigt, wo man die Wiese mit den Enthaupteten sah und tief drunten, im Nachmittagsdunst, das Dörfli.
»Mich hat kein Glaarä gebissen«, hatte Heidi dazwischengerufen und, um zu beweisen, dass es die Wahrheit sprach, sein rotes Halstuch weggelegt, das Röckchen aufgeknöpft und ausgezogen und hatte gleich noch eins auszuhäkeln gehabt, denn die Dete hatte ihm das Sonntagskleid über das Alltagszeug gezogen. Im leichten Unterrock war das Kind dagestanden, die bloßen Arme aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft streckend. »Schau, Großvater! Nirgends ein Biss!«
»Kein Unaussprechlicher ist ihr zu nahe gekommen«, hatte Dete bekräftigt, da sie fürchtete, der Großvater würde nicht zaudern, das Mädchen, Enkelkind oder nicht, am nächsten Felsen zu zerschmettern, hätte ein Niänenüütli seine Hand auf Heidi gelegt.
»Unsere Alm ist nicht mehr sicher.« Schwer hatte der alte Mann den Kopf geschüttelt.
»Das ist nun Eure Sache. Ich muss meinem Verdienste nach, in die Stadt, und Ihr seid der Nächste am Kind. Wenn Ihr’s nicht haben könnt, so überlasst es den Niänenüütli. Dann habt Ihr’s zu verantworten, wenn es verdirbt.«
Bei ihren letzten Worten war der Öhi drohend aufgestanden; vor seinem wüsten Blick war Dete zurückgewichen. Er hatte den Arm ausgestreckt und befehlend gesagt: »Mach, dass du hinunterkommst, von wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so bald wieder!«
Das hatte sich Dete nicht zweimal sagen lassen. Sie hatte
kein gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie hitziger geworden, als sie im Sinn hatte. »So leb denn wohl, Heidi.« Sie hatte dem Kinde zugewinkt und war im schnellen Trab ins Dörfli hinab entschwunden.
Vergnügt schaute Heidi sich um. Frei auf dem Vorsprung des Berges stand die Hütte des Öhi, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht ins Tal. Hinter der Hütte standen fünf alte Tannen mit langen, unbeschnittenen Ästen. Dahinter ging es nochmals bergan, erst über schöne, kräuterreiche Höhen, dann ins Geröll der grauen Felsen und endlich zu den kahlen, beschneiten Gipfeln.
»Ich will sehen, was du drinnen hast«, sagte Heidi. »In deiner Hütte.«
Der Großvater kaute an seinem Schnurrbart. »So komm.« Er stand auf und ging voran. »Nimm dein Bündel Kleider mit«, befahl er im Hineintreten.
»Die brauch ich nicht mehr.«
»Brauchst nicht? Und wenn sie dich vor dem Biss eines Niänenüütli bewahren?«
»Ich will’s machen wie die Geißen«, lachte Heidi. »Die haben leichte Beinchen und springen jedem Niänenüütli davon.«
»So«, sagte der Alte halblaut. »An Verstand scheint’s dir nicht zu fehlen. Nimm trotzdem des Zeug, es kommt in den Kasten.«
Sie traten in einen großen Raum, da stand ein Tisch und ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in einer anderen hing der große Kessel über dem Herd. Heidi staunte, als es sich umschaute, denn es hatte schon
so manches über Geräte gehört, die den Unaussprechlichen den Garaus machten, aber Werkzeug wie dies war ihm noch nie begegnet. Da hing eine Armbrust über dem Herd, das Pfeilchen, das darin eingespannt war, hatte keine gewöhnliche Form: Die Spitze war in Form eines Kreuzes gegossen. Darunter hing ein Füüschtlig, ein schwerer Hammer, wie ihn die Maurer
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