Heimat
bestimmte Orte zurückzieht oder dass diese Sehnsucht überhaupt irgendwo überwintert hat.
Christa Greuling wuchs in den 1930er Jahren in Landsberg an der Warthe auf, dem heutigen polnischen Gorzow. Mit den Eltern, die eine Bäckerei hatten, fuhr sie damals an Wochenenden im Auto »in irgendein Ausflugslokal in der landschaftlich herrlichen Umgebung«, wie sie 2006 auf einer Konferenz über die deutsch-polnische Oderregion berichtete. 25 »Es waren herrliche, unbeschwerte Tage und ich liebte den Wald, die Blaubeeren, Himbeeren und das Schwimmen im See.« Mit der Flucht Anfang 1945 war dies alles vorbei.
Die Familie siedelte über nach Thüringen, die Halbwüchsige fand neue Freunde und »die große Liebe«, wie sie selbst sagt.«An Landsberg habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.« 1950 zog die Familie noch einmal um, zu Verwandten nach Dortmund. Das junge Mädchen sehnte sich zurück nach Thüringen. »An Landsberg dachte ich nie.« Nach der Heirat 1960 folgte der nächste Umzug, diesmal nach Koblenz, später ein weiterer nach Frankfurt am Main. »Landsberg war weit weg und kam in meinen Gedanken nicht vor«, versicherte Greuling. »Wir bauten uns eine Existenz auf, ich hatte eine Familie und war damit ausgelastet.« Auch mit dem Vertriebenenverband Bundesarbeitsgemeinschaft Landsberg/Warthe spürte sie keinerlei Verbindung und ließ die regelmäßigen Treffen bald schon sausen.
Erst 1985 schlug ihr eine Bekannte vor, wieder an den Ort der Kindheit zu reisen. »Wir fuhren an diesem Morgen auf der Friedeberger Straße in Richtung Stolzenberg. Die Sonne schien, die Bäume der Allee standen in frischem Grün. Es war, als wenn man durch einen grünen sonnendurchfluteten Dom fuhr. Mir schossen die Tränen in die Augen und es war wie ein Dammbruch.« Nach 40 Jahren war dieser in einer verwinkelten Biografie verschüttete Ort plötzlich wieder da: Heimat.
1990 nahm sich Christa Greuling, von den Nachkommen der alten Nachbarn offenbar ohne Feindseligkeit empfangen, in einem kleinen Dorf eine Wohnung für ihre häufigen, wenn auch befristeten Besuche. Dort zieht sie der Kiefernduft, der Blick auf die Birken am Wegesrand, das Eintauchen in den See an heißen Sommertagen zurück in ihre Kindheit. »Der See ist von Wald eingerahmt. Dieses Bild kenne ich im Frühjahr, im Sommer, im Herbst, wenn die gelb gefärbten Birken den Waldesrand säumen und im Winter bei Schnee. Diese Bilder habe ich als Fotografien in meinem Kopf und in meinem Herzen konserviert.« Nicht das Elternhaus habe das Heimatgefühl frei gelegt oder die Stadt Landsberg. »Etwas, das verschüttet und vergessen war, hat mein Empfinden wieder erreicht und die Erinnerung an die Kindheit zurückgebracht«, beschrieb Greuling diese tiefe Bindung. »Ein Gefühl für verlorene Besitztümer habe ich nicht, aber diese Landschaft möchte ich nicht mehr missen. Auch liegt mir die Mentalität der jetzt dort lebenden Menschen. Ob wir einander ähnlich sind?«
Die Geschichte von Christa Greuling ist eine jener, die für das 20. Jahrhundert so typisch sind, die bei den Nachkriegsgeborenen Unbehagen auslösen, weil man das persönliche Schicksal nicht frei sehen kann von den historischen Wirren, der Frage nach Schuld und dem Irrsinn der NS-Diktatur. Man kann aber darin auch erkennen, wie dieses oft katastrophale Jahrhundert in Biografien eine urmenschliche Erfahrung verdichtet hat, die die Bewohner des 21. Jahrhunderts bruchlos weiter umtreibt. Die Geschichte zeigt im Extremen die Erfahrung oder Möglichkeit von Entwurzelung und Rückkehr, die jeder in sich trägt.
Wer heute nach Heimat gefragt wird, hat oft die gleichen Antworten parat, auch ohne eigene dramatische Erfahrung. »Heimat verbinde ich mit meiner Kindheit, mit den Wäldern hinter der Straße, wo ich als Kind mit meinen Kumpels gespielt habe und jeden Baum und Strauch kenne«, sagte zum Beispiel ein Teilnehmer der Studie »Regionale Interessen und Heimatverständnis« von 2008. Die Interviewer des Rheingold Instituts in Köln zeigten sich überrascht von den tiefen Emotionen, die sie bei ihren Gesprächspartnern anrührten. »Spricht man über Heimat, kommen sehnsuchtsvolle Gefühle auf«, resümieren die Forscher, die 36 »tiefenpsychologische Interviews« für die Studie führten. »Die Befragten beschreiben einen Zustand der Sorgenfreiheit, des Aufgehoben- und Beschütztseins sowie der Sicherheit und Geborgenheit.« Diese Gefühle würden verknüpft mit alten Freunden, den Eltern oder der eigenen
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