Heimat
verwurzelt ist. »Die Nachbarschaft ist sehr nett«, sagt sie. »Hier sagen noch alle Guten Tag. Wo hat man das sonst noch?« Auf dem Friedhof trifft man sich an Wochenenden, wenn jeder mal eben kurz zum Grab geht, um die Blumen zu gießen und die welken Blätter abzulesen. »Man lädt sich gegenseitig zum Geburtstag ein, wenn es runde sind. Man nimmt Anteil.«
Als die Dörfler während ihrer Trennungszeit anfingen, sich Geschichten zu erzählen, das hat sie schon gestört. Aber Ingrid
zeigt sich erstaunlich milde. Enge im Dorf? Die Zwänge? Die soziale Kontrolle? »Nee«, sie schüttelt den Kopf, das ist kein Thema für sie. Und dann klingt wieder der leicht entschuldigende Unterton durch: »Ich habe ja noch nie woanders gewohnt. Deshalb kann ich gar nicht mitreden. Ich weiß nur, dass ich mich hier wirklich sehr wohl fühle.«
Dass das an einer besonders schönen Kindheit gelegen hat, in diesem heilen kleinen Ort hinterm Deich, auch da ist sich Ingrid nicht ganz sicher. Die Eltern hatten für die Kinder kaum Zeit, weil sie im Dorf die Bäckerei betrieben und noch eine im Nachbardorf dazu. »Das Schöne war, es war immer jemand da, durch die Bäckerei«, erinnert sie sich. »Wir hatten immer frisches Brot und Brötchen und Kuchen.« Dann sagt sie noch: »Wir hatten nichts auszustehen.« Der Opa, dem die Bäckerei bis heute gehört, hatte ein Boot auf der Aller. »Das war eigentlich ganz schön.« Aber sonst hat sie kaum Erinnerungen an ihre Kindheit, wie sie sagt. Das soll wohl heißen: So toll war es nicht, dass man jetzt eine schöne, runde Heimat-Theorie darum zimmern könnte. »Ich habe da noch nie so drüber nachgedacht. Es ist einfach so, dass man sich wohl fühlt, dass man hier sein Zuhause hat.«
Letztlich geht es Ingrid damit kaum anders als Millionen anderer Menschen in Deutschland, die sich gebunden fühlen, verbunden, eingebunden am Ort, an dem sie aufgewachsen sind. Selbst schlauen Zeitgenossen wie dem Autor Florian Illies fällt es schwer, diese sehnsüchtige Verbindung zum Herkunftsort dingfest zumachen. »Wenn ich heute zurückkomme in meine Heimatstadt«, schreibt Illies in »Ortsgespräch«, seiner Ode an den Geburtsort Schlitz, »wenn ich die Großstadt hinter mir lasse und ein paar Stunden lang mit dem Zug zurückfahre aufs Land, dann freue ich mich, wenn der Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe angesagt wird, und zwar nicht, weil dort der mobile Brezelverkäufer zusteigt. Sondern weil dann das Heimatgefühl in mir aufsteigt, wenn kurz hinter Kassel die Wiesen hügeliger werden und die Häuser fachwerkiger.«
Auch die Erinnerung an einen bestimmten Geruch macht Illies für diese wohlige Vorfreude verantwortlich. »Leider duftet es nicht besonders gut, abgestanden und modrig eher, ein fieser Schwamm,
der in den Tannen steckt, aus denen unser Fertighaus gebaut wurde.« Nur wenn man von außen komme, könne man den Geruch wahrnehmen für ein paar Sekunden, bevor man wieder eingelullt und Teil von ihm werde. »Könnte man das Fenster im ICE öffnen, ich glaube, man könnte unser Haus bis Kassel-Wilhelmshöhe riechen«, schreibt Illies. 23
Der Publizist Ralph Giordano, der in seinen »Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat« weit weniger unbeschwert über Deutschland sinniert, kommt an dieser unerklärlichen Bindung an seine Geburtsstadt Hamburg ebenfalls nicht vorbei. Er, der deutsche Jude, der die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs in bitterer Not und Verzweiflung in einem Hamburger Versteck überlebt hat, begegnet Jahrzehnte später beim Spaziergang durch die Hansestadt wieder dem eigenen Grauen. Am Winterhuder Johanneum, wo er als Junge unter einem antisemitischen Lehrer litt, am enteigneten Schrebergarten der Großeltern, an dem einstigen illegalen Versteck mit seiner ständigen Angst vor Entdeckung und seinen Rattenbissen. Dennoch kommt Giordano zu dem Schluss: »Ich hatte das Privileg durch meinen Beruf beinahe die ganze Welt kennenzulernen und dabei auch ihre eindrucksvollsten Städte. Von Rios Zuckerhut bis zu Hongkongs Dschunkenhäfen, von Manhattans ragender Skyline bis zu Stockholms nordischer Backsteinschönheit; vom weiß schimmernden Zentrum Recifes, des alten Pernambuco, bis zum Platz der drei Kulturen Mexico Citys, um nur sie zu nennen. Aber wenn ich gefragt werde, welche Stadt auf Erden die schönste sei, antworte ich wie aus der Pistole geschossen: ›Hamburg!‹« 24
Meist wird, wie bei Giordano, erst aus räumlicher oder biografischer Entfernung klarer, was einen an
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