Heimat
Familie oder auch mit Gegenständen, etwa »einer alten Ikea-Tasse, aus der man als Kind schon getrunken hat«. 26
Auch die Zwickauer Psychologin Beate Mitzscherlich beschreibt Heimat als sinnliche Erfahrung in der Kindheit, nämlich der unmittelbaren familiären, wie auch der geografischen, sozialen und kulturellen Umgebung. »Es sind nicht nur Bilder von Gesichtern, Personen, Räumen, Landschaften, sondern auch Klänge, Klangfarben, Dialekte, Melodien, typische Wörter und Sätze, Gerüche und Geschmäcker, die sich als ‚heimatlich’, das heißt in diesem Zusammenhang vertraut, bekannt und gewohnt im wahrsten Sinne des Wortes ‚einprägen’ und deren späteres Wiedertreffen an anderen Orten sofort zu heimatlichen Assoziationen führt«, schreibt Mitzscherlich über »Die psychologische Notwendigkeit von Beheimatung«. 27
Ihr Leipziger Kollege Urs Fuhrer, der sich mit Umweltpsychologie befasst, betont ebenfalls den Zusammenhang zwischen räumlicher Umwelt und Identität. Es gehe nicht nur um Kenntnis der Örtlichkeiten, sondern um deren Bedeutung, die sich aus Erfahrung und Erinnerung speist, also um die emotionale Dimension einer bestimmten Landschaft oder städtischen Umgebung. »Die Bindung an bestimmte Orte schafft existenzielle Sicherheit, Orientierung und Handlungssicherheit, sie bringt Kontinuität und Identifikation und ist eine wichtige Stütze für die eigene Identität.« 28
Einige Verhaltensforscher verweisen auf das tierische Territorialprinzip. Mensch wie Tier suchten Identität in der Verbindung mit etwas Größerem und Dauerhafterem als sie selbst, nämlich der sie jeweils umgebenden Landschaft. In der Tierwelt gehöre der Mensch eben nicht zu »den seltenen Arten, die auf Ungestörtheit, individuelle Distanz und eigenes Territorium verzichten«, schreibt Konrad Buchwald. 29 »Wir können annehmen, dass die Anfänge der allgemeinen psychischen Bedürfnisse des Menschen auf die Zeit vor der Menschwerdung zurückgehen.« Entsprechend groß ist die Bedeutung, die einige Forscher diesem Bedürfnis zumessen: Werde es nicht befriedigt, könnte es Schaden in der emotionalen Struktur des Menschen anrichten.
Die Heimatsoziologen sind sich nicht ganz einig, welche Umgebung der Identitätsfindung besonders zuträglich ist. Georg Simmel vertrat zum Beispiel noch um 1900 die Auffassung, dass Bergvölker eine engere Beziehung zum Herkunftsort pflegten - war doch das Syndrom »Heimweh« zuerst als »Schweizerkrankheit« bekannt. 30 Die Erfahrung aus anderen Landstrichen spricht allerdings dagegen, denn auch Moor und Heide, Watt und Marsch taugen durchaus als Sehnsuchtsorte, wie Buchwald unter Hinweis auf die »großartige Schrift« »Vom Erleben der Landschaft und vom flachen Lande Niedersachsen« betont. 31
Die starke Assoziation von Heimat mit Natur wiederum schien lange die Stadt - die Großstadt zumal - aus dem Raster möglicher Neigungs-Orte zu tilgen. Der Städter saß, zumindest nach Auffassung der professionellen Heimatforscher, in seiner anonymen, entnaturalisierten, beengten, scheußlichen Kunstwelt und
wünschte sich zurück ins Dorf. Buchwald verweist auf die von der Industrialisierung erzwungene Abwanderung in die Städte Ende des 19. Jahrhunderts. Damit »wurde die verlorene Dorfheimat zum idealisierten Wunschtraum von Geborgenheit und Sicherheit, des überschaubaren Bereichs, in dessen kleiner Gemeinschaft die eigene Person noch etwas galt, zum Idealbild von schöner und gesunder Landschaft«, schreibt der frühere Direktor des Instituts für Landschaftspflege und Naturschutz der Universität Hannover. »All dieses fehlte der Großstadt. Und es ist nicht verwunderlich, dass diese Zeit der Großstadt jeglichen Heimatcharakter absprach.« 32
Nach 150 Jahren beschleunigter Urbanisierung scheint auch in der Soziologie die Stadt als Heimat nicht mehr ausgeschlossen, obwohl sie vielen immer noch als hässlicher kleiner Ersatz für das echte, im Grünen angesiedelte Original gilt. Intuitiv folgen dem die meisten Menschen offenbar: Immerhin träumen Umfragen zufolge vier von fünf Deutschen von einem Häuschen im Grünen. 33 Wobei eine bittere Ironie darin liegt, dass gerade der Flächenfraß immer neuer Stadtrandsiedlungen das Potenzial idyllischer Abgeschiedenheit seit Jahrzehnten zunehmend beschneidet. Der Autor Martin Hecht ironisiert den bescheidenen Wunsch nach dem eigenen Reihenendhaus als letztes Überbleibsel des urtümlichen Landbauern in uns, der mangels anderer
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