Heimat
steht das Haus, der Vorgarten, die Busse fahren noch, der Metzger die Straße rauf verkauft seine Würste. Die Kinder gehen zur Schule, noch gibt es Geld und für Geld Milch und Suppengrün. Schnell einen Schutzzaun ziehen um diesen kleinen heilen Ort, bevor er untergeht im Weltenwirrwarr. Von fehlender Gründung in einer zerfließenden Zeit wird auch in diesem Buch die Rede sein.
Aber damit sind wir noch nicht am Kern des Phänomens Heimat. Die Sehnsucht ist in ihrem Grunde eben nicht neu, sie ist uralt, und sie ereilt in schöner Regelmäßigkeit jede Generation. Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Es sind die großen Lebensfragen. Letztlich beantwortet sie jeder dann doch ziemlich konkret: Wo will ich sein? Wohin zieht es mich fort? Was bindet mich? Man stellt sich diese Fragen eher nicht mit 19 - der junge Praktikant neben mir bei der Grünen-Konferenz zog es während der profunden Diskurse der mittelalten Referenten vor, seine diversen Facebook- und Twitter-Accounts zu aktualisieren. Irgendwann klappte er dann den Laptop ein und ging. Vielleicht stellt man sich diese Fragen mit 29, wahrscheinlich erst mit 39, meist aber, wenn Kinder aufwachsen sollen, und sicher auch, sobald sich der Gedanke einschleicht, wo man begraben werden möchte. Heimat - der Wunsch nach Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Einordnung, nach Identität - ist ein universelles Bedürfnis, tief und erdig. Kaum jemand kann sich dem entziehen. Dieses Buch erzählt davon, woran Menschen hängen, was sie hält, im Dorf oder in der Stadt, und was sie wegzieht in die Fremde, denn auch das ist ja eine Auseinandersetzung mit der Heimat.
Die psychologische Notwendigkeit von Heimat jedoch erklärt nicht das eigenartige Verhältnis, das insbesondere die Deutschen mit diesem immer wiederkehrenden Thema pflegen. Der Tübinger Ethnologe Hermann Bausinger hielt schon vor Jahrzehnten fest, »dass der Heimatbegriff bei uns eine besondere - eine besonders ‚innige’ und in dieser Innigkeit problematische - Färbung angenommen hat«. 4 Das Thema beschäftigte in der Poesie einen Heine, einen Eichendorff, einen Brecht, in der Philosophie einen Nietzsche, einen
Schopenhauer und Heidegger. Und sehr, sehr viele andere, die theatralisch daran verzweifelten: »Viele leben, teils freiwillig, teils unfreiwillig, außerhalb ihrer angeborenen Heimat, und es entsteht die Frage: Sind diese darum in geringerem Maß Menschen? Fehlt ihnen etwas am vollen Menschsein?« Der Philosoph Otto Friedrich Bollnow kam dann doch noch zu dem Schluss, dass Menschsein wohl auch nach einem Umzug irgendwie möglich ist. 5 Aber es entsteht die Frage, wie in so mancher deutschen Debatte: Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner?
Während die Amerikaner fröhlich nach der Devise »The grass is always greener on the other side of the hill« immer wieder neu den Aufbruch probten, während die Franzosen die Provinz zum Makel stilisierten, sahen sich die Deutschen schon Ende des 19. Jahrhunderts genötigt, sich in einer »Heimatschutzbewegung« der bedrohten Idylle zu widmen. Der Gegensatz ist ein bisschen künstlich, natürlich. Regionalismus, lokale Verwurzelung und die Idealisierung der Natur gibt es auch anderswo. Aber der deutsche Kult, diese fast religiöse Überhöhung - das ist schon etwas sehr Eigenes.
Mit Alpentümelei und einer verquasten Blut-und-Boden-Ideologie steuerten schließlich ein rassistischer Diktator und seine Millionen Anhänger Deutschland und Europa in die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts und die ach so hehre Heimat in die Apokalypse. 14 Millionen Vertriebene aus den ehemals deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa quälen sich seitdem mit dem Verlust von Identität. Die Sehnsucht aber überlebte ihre schlimmste politische Ausbeutung. Und nicht nur das. Brüche scheinen den Wunsch nach Ordnung, nach »geordneten Verhältnissen«, nur zu nähren. Nach dem Zweiten Weltkrieg erblühte zwischen »Schwarzwaldmädel« und den »Egerländer Musikanten« eine Heimatindustrie, die in den vergangenen 60 Jahren noch jeder Konjunkturkrise trotzte. Auch die Philosophie nahm sich des geschundenen Konzepts wieder an und versuchte neue Deutungen, wie Ernst Bloch in seinem »Prinzip Hoffnung«: »Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint
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