Heimat
hielt sie der alte Grund plötzlich nicht mehr, der Boden unter den Füßen ging ihnen verloren, ohne dass die westdeutsche Mehrheit dies anerkannt oder auch nur bemerkt hätte.
Hinzu kommt eine Entfremdung ganz anderer Art, die sich nicht auf die Ost-West-Teilung beschränkt: die soziale und ökonomische Heimatlosigkeit von Millionen Menschen in einer Gesellschaft, die ihnen keine Arbeit und keine Teilhabe bietet. Ein Großteil von ihnen fühlt sich in einer auf Dauer angelegten Außenseiterrolle, abgekoppelt, abgekapselt, ohne Chance auf Rückkehr in die ökonomische Gemeinschaft. Wer keine Arbeit habe, büße auch seine Freiheit ein, denn er sei »an der langen Leine der Arbeitsagentur«, meint der Berliner Soziologe Wolfgang Engler. Und wer keine Freiheit hat zu gehen, für den ist die Heimat eben auch keine Idylle, sondern Grauen. »Mit dem Klientenstatus wird Heimat für viele Ostdeutsche das, was sie vor 1989 war, nämlich zum Schicksal und zum Verhängnis, zu einem Ort, den man nicht verlassen kann«, sagt Engler. 12 Und das trifft nicht nur Menschen in den neuen Bundesländern.
Dieses Buch ist eine Reise durch die Heimat, nicht in großer Flughöhe, eher in Bodennähe. Es ist bevölkert von realen Menschen aus allerlei Himmelsrichtungen, die unterwegs bereit waren, aus ihrem Leben zu erzählen. Es ist auch eine Reise durch die Geschichte, um zu verstehen, warum Heimat für die Deutschen ein so übermächtiger Ort ist - Zuflucht und Popanz und Firlefanz in einem.
Es ist an der Zeit, die mystische Debatte zu erden und auf Normalmaß zurechtzustutzen. Es ist an der Zeit, sich einzugestehen, dass es sich um ein privates Bedürfnis handelt, das unterschiedliche Menschen vielleicht auf unterschiedliche Art stillen - aber doch jeder irgendwie. Nur dann können wir den alten Reflex der Überhöhung und der politischen Ausbeutung dieser subjektiven Sehnsucht überwinden. Und nur dann kann es gelingen, die Kluften dieser Gesellschaft zu überbrücken, zwischen einheimisch und zugewandert, zwischen Ost und West.
I. Heimat
Was ist das und wozu braucht man das im 21. Jahrhundert?
1. Ein eigenwilliger Streit in einem Dorf in Niedersachsen
Ganz oben unter den frisch sanierten Dachgauben stehen die alten Kinderwägen, gleich mehrere. Es sind diese ausladenden Ungetüme im Korbgeflecht aus einer Zeit, als der Kofferraum eines Polo für Kinderwägen noch kein Maßstab war, als propere Nachkriegsbabys wie kleine Könige in diesen wippenden Staatskarossen durchs Dorf kutschiert wurden. Daneben findet sich in der »Heimatstube« so ziemlich alles, was Omas Dachboden hergab: eine kuriose, geschnürte Kinderunterhose, die sehr unbequem aussieht und sehr nach wundem Po, eine Lehrkarte mit den Vögeln der Region, alte Milchkannen, pädagogisch wertvoll präsentiert neben einem rostigen Fahrrad. Durch das offene Fenster wehen stilecht Fetzen von Blasmusik vom Schützenfest herüber.
Es ist niemand da.
Auch ein Stockwerk tiefer im alten Amtshaus des Dörfchens Westen sind die meisten Räume verlassen. Nur in einer kleinen Gaststube sitzen an diesem Sonntagnachmittag einige Ältere zum Kaffee. Das ist eine Idee des Heimatvereins Westen, das »Intergenerationen-Erzählcafé« - die Alten berichten den Jungen von damals. »Das ist unsere einzige Chance: die Gemeinschaft zwischen Jungen und Alten zu fördern«, sagt die Vereinsvorsitzende Ulrike Kraul. 13 Aber Junge sind keine gekommen, und so erzählen sich wohl alle wie immer nur gegenseitig die Geschichten aus der Nachbarschaft und wer im Dorf gestorben ist.
Westen liegt ziemlich genau auf halbem Wege zwischen Bremen und Hannover und ist eigentlich eine Bilderbuchheimat. Rote Backsteinhäuschen ducken sich hinter den Deich an der Aller, die die meiste Zeit des Jahres schmal und bräsig Richtung Nordsee strudelt. Daneben der stämmige Turm der 800 Jahre alten Kirche St. Annen. Mitten im Dorf grasen auf fettem Grün die Pferde, gleich neben der Volksbank. Pfingstsonntag marschiert die Jugend mit Blasmusik im Schützenumzug durch den Ort, Treffpunkt um eins bei der freiwilligen Feuerwehr. Gut, wer richtig dem Klischee entsprechen will, der braucht vielleicht noch ein paar Berge. Aber ansonsten scheint Westen schon ziemlich nah am Idealbild der deutschen Heimat: ländliche Scholle, eine enge Gemeinschaft, intakte Natur.
Ulrike Kraul, die grauen langen Haare streng nach hinten gebunden, ein müder Zug um die blassen Augen, sieht allerdings weniger die Idylle als ihre
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