Heimat
Gefährdung in einer sich rasant wandelnden Welt. Die Vorsitzende des Heimatvereins hat alle Zahlen parat. 56 Häuser stehen in der Gemeinde Dörverden, zu der Westen gehört, zum Verkauf. Sechs Bauern gibt es noch im Dorf und auch die sind in Gefahr, seit die Milchpreise so gefallen sind. Einer von zwei Krämerläden hat schon vor Jahren dicht gemacht, ebenso der alte Fahrradladen und nun auch noch das Schuhgeschäft und beide Dorfkneipen. Und Ulrike sieht noch eine Menge weiterer Probleme.
Wer hier wohnt, arbeitet in der Stadt, vielleicht in Verden oder Bremen, die Familie braucht zwei Autos und stottert wahrscheinlich dazu noch ein Haus ab. Also müssen beide Eltern arbeiten, also ist keine Zeit für die Kinder. Oma, Kirche, Vereine - alle Institutionen bröckeln. Der Männergesangsverein Concordia hat sich gerade nach mehr als 110 Jahren aufgelöst: Es kam einfach keiner nach. Hartz IV hat auch diesen entlegenen Winkel hinterm Aller-Deich erreicht, die Not allein erziehender Mütter und das Befremden über Zugewanderte, seit einige Russlanddeutsche sich in Westen niedergelassen haben. Was die Planierraupen nicht platt machen, wird von namenlosen EU-Agrarkommissaren unter Feuer genommen oder vom demografischen Wandel oder vom sozialen Abstieg und dem Zerfall der Gesellschaft.
Die Vorsitzende des Heimatvereins stemmt sich dagegen, man merkt ihr an, wie viel Kraft das gekostet hat. Eigentlich ist sie Bäuerin, mit ihrem Mann besitzt sie einen Hof. Doch ihr großes Projekt ist das alte Amtshaus: das neue Mehrgenerationenhaus - als Symbol, dass dieses Dorf noch als Gemeinschaft funktioniert, dass es eine Zukunft hat, dass die Heimat nicht untergeht.
Ohne Ulrike, das bestreitet in Westen niemand, stünde der imposante Backsteinbau wahrscheinlich noch immer bröckelnd und herunter gekommen, mit Schwamm im Gebälk am Ufer der Aller. Sie war es, die die letztlich 1,3 Millionen Euro teure Sanierung vorantrieb, die die Förderanträge für die EU schrieb und die Briefe an Ursula von der Leyen, als die noch niedersächsische Sozialministerin war. Die Ministerin war inzwischen schon drei Mal in Westen, man stelle sich das vor, in einem 1.300-Seelen-Nest auf dem platten Land. Sie ist von
der Idee des Mehrgenerationenhauses genauso begeistert wie Ulrike. Nachmittags sollen die Kinder zum Spielen kommen. Frauen aus dem Ort helfen bei der Betreuung, sie können dort auch mal für ein paar Stunden auf die verwirrte Oma aufpassen. Alte für Junge, Junge für Alte. Fast so wie früher. Nur so wird Westen überleben, davon ist Ulrike Kraul überzeugt. Sie will die Menschen im Dorf aufrütteln.
Allerdings sind etliche Westener vom einsamen Kampf der Ulrike Kraul um die Heimat inzwischen mächtig genervt. »Das tragen nicht alle mit, lange nicht«, sagt sie selbst resigniert. Ausgerechnet die Streiterin für den Zusammenhalt der Generationen - in der Dorfgemeinschaft scheint sie selbst ziemlich isoliert. Die Freundlichen flüchten sich ins Nichtssagende. »Im Grunde ist das schon eine ganz gute Idee mit dem Mehrgenerationenhaus«, meint die Bäckereiverkäuferin zweifelnd. Andere geben sich offen feindselig. »Da geht doch niemand hin«, weiß der Nachbar schräg gegenüber vom Amtshaus. Er trifft sich jedenfalls lieber mit seinen Kegelbrüdern zum Dämmerschoppen als beim »Erzählcafé« mitzumachen.
In diesem Dorfzwist sind wohl einige undurchsichtige Regeln am Werke. Mag sein, dass, wie Ulrike selbst vermutet, ihre Herkunft eine Rolle spielt. Denn sie kam erst mit 18 Jahren aus einem Nachbarort nach Westen. Sie sagt, mit nur sehr schwacher Ironie, sie trage den »Flüchtlingsausweis E« - E für eingeheiratet, auch wenn das jetzt 40 Jahre her ist. Vielleicht hat sie ihre Mitbürger verprellt, als sie im Heimatverein gleich zu Beginn mal richtig grundsätzlich klarstellte, dass es hier nicht um nostalgisches Heididei gehen soll, sondern um ein »modernes Verständnis von Heimat«. Vielleicht redete sie einigen der bodenständigen Bauern zu viel grün gefärbtes Ökozeug von kleinräumiger Kulturlandschaft und Hecken, unter die sich Hase und Igel flüchten sollen, denn auch sie sind in Ulrikes Welt bedroht von jener unheimlichen Heimatlosigkeit.
Gemeindebürgermeisterin Karin Meyer übt sich in Diplomatie in diesem seltsamen Streit. Die Frage, wie es denn läuft mit dem Projekt des Heimatvereins, lässt sie einen Moment im Raum hängen, dann sagt sie: »Wenn man Frau Kraul fragt, dann sagt sie, es läuft gut.« Kleine
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