Heimat
Pause. »Nur, immer wenn ich da bin, dann ist es halt ziemlich leer.« 14
Karin Meyer bewegt sich auf heiklem Terrain. Nach gängiger Lesart hat die SPD-Frau ihre Wahl 2006 vor allem dem Streit über das alte Amtshaus zu verdanken. Denn für jeden Euro, den die EU aus der Regionalförderung für die Sanierung gab, musste die Gemeinde einen zweiten beisteuern, 800.000 Euro auf Kredit alles in allem. Und jeder Cent, der ins Westener Amtshaus floss, fehlte in den Nachbardörfern für die Sanierung von Turnhallen und Schuldächern. Das gab wohl böses Blut, jedenfalls ging die Wahl für den Bürgermeister schief und Meyer, die krasse Außenseiterin, kam von heute auf morgen ins Amt.
Die 49-Jährige ist eine schmale, verhaltene Frau. Sie wählt und wägt ihre Worte. Sie sieht die Probleme in der Gemeinde, das ja. Jeden Monat studiert sie die Daten vom Einwohnermeldeamt. »Es ziehen viele weg«, weiß sie. Ganze Straßenzüge gibt es, in denen nur noch Menschen jenseits der 70 wohnen. »Da fragt man sich, wie es in zehn Jahren aussieht, das ist schon beängstigend.« Nur, die Untergangsszenarien, das Sammeln alter Milchkannen und Taufkleidchen, das Abspielen plattdeutscher Lieder zum Seniorenkaffee, all das hilft aus ihrer Sicht nicht viel weiter. »Es geht darum, aktives Leben im Dorf zu erhalten, und nicht darum, alte Sachen zu konservieren«, sagt die Bürgermeisterin. »Es muss auch Spaß machen.«
Einige Junge ziehen eben auch zu, es geht nicht alles abwärts in der Gemeinde. »Natürlich gibt es einen Strukturwandel, aber ich weiß nicht, ob es nicht immer einen Wandel gab«, sinniert sie. »Dass die Gemeinschaft im Dorf auseinanderbricht, dass alles nur noch anonym wird, das sehe ich nicht so.« Gerade erst haben sich einige Bürger zusammengefunden, um eine Stiftung zu gründen. Sie soll die Pfarrstelle im Dorf erhalten, wenn der evangelischen Landeskirche das Geld ausgeht. Dafür sammeln die Dörfler mit Kuchenbasaren und Kleiderverkäufen Kapital. 25.000 Euro sind es schon. Meyer ist begeistert vom Gemeinsinn ihrer Bürger.
Irgendwie passt das Bild von der sterbenden Heimat doch nicht ganz, oder jedenfalls nicht nur. Noch gibt es in Westen einen Kaufladen und einen Bäcker, die Sparkasse und die Volksbank, eine Ärztin, einen Tischler. Sogar einen Blumenladen hat das Dorf, einen Kindergarten, eine Schule und eine Fahrschule. Es gibt ein bisschen
Urlaub-auf-dem-Bauernhof-Tourismus und auch einige junge Familien. 16 Vereine tummeln sich auf kleinstem Raum, vom Karten-, Kegel-, Knüddelklub bis zum Schützenverein und zur freiwilligen Feuerwehr. Man kann sich gut vorstellen, dass man hier auch im 21. Jahrhundert von Gemeinschaft geradezu unentrinnbar umzingelt ist. Viele Westener jedenfalls scheinen das Leben anzugehen, wie die meisten ihrer Zeitgenossen überall: Sie leben augenscheinlich ganz zufrieden vor sich hin. Sie freuen sich, dass sie beim Bauern frische Milch kaufen können und regen sich auf, wenn der Gestank der Schweinemast bei Ostwind rüberweht. Sie seufzen, wenn es durch die Fensterritzen ihrer alten Häuser zieht und sind doch stolz, dass ihre Vorfahren schon vor 300 Jahren am selben Fleck verwurzelt waren. Sie feiern zusammen am Osterfeuer und ärgern sich bisweilen über den Starrsinn ihrer Nachbarn. Sie reden platt und surfen im Internet. Sie plagen sich und klagen und leben doch irgendwie gern hier.
Vielleicht ist den Dörflern der von Ulrike Kraul vorexerzierte Kampf um die Heimat einfach zu anstrengend. Sie selbst glaubt, dass viele den Ernst der Lage noch nicht erkannt haben. Die Vorsitzende des Heimatvereins zieht ein bitteres Fazit: »Es geht den Leuten hier einfach noch zu gut.«
Unter dem Strich bleibt also ein einigermaßen verworrenes Bild vom ländlichen Idealtyp der deutschen Heimat. Es gibt sie noch. Sie wandelt sich. Der Ausgang ist umstritten. Unter der Käseglocke dieser kleinen Dorfwelt lässt sich ziemlich genau nachvollziehen, zwischen welchen Polen sich die deutsche Heimatdebatte seit Jahrhunderten abspielt: das Neue und die Tradition, Innen und Außen, Geborgenheit und Enge, Zugehörigkeit und Fremde, Öffnung und Abgrenzung, das Politische und das Private.
Dass sich leise etwas ändert, ist für alle spürbar, doch ziehen nicht alle die gleichen Konsequenzen. Der Reflex der Verteidigung ist alt, immerhin entstand schon die »Heimatschutzbewegung« im 19. Jahrhundert aus einem Gefühl der Bedrohung heraus und auch die Heimat-Renaissance Ende des 20. Jahrhunderts
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