Heimkehr am Morgen (German Edition)
nicht die Grippe hatte.
Sondern dass sie nur weinte.
Die Tränen kamen in Schüben, ebenso wie die unaufhörlichen Fragen, die sie quälten. Nur die schmerzende Leere in ihrem Innern spürte sie die ganze Zeit.
Hatte sie die falsche Entscheidung getroffen, Powell Springs zu verlassen? War sie wieder weggelaufen, wie Cole gesagt hatte? Und wenn sie sich richtig entschieden hatte, warum fühlte sie sich dann so elend? Bei ihrer Abreise aus New York war sie nicht traurig gewesen.
Sie sah sich um und wünschte, sie könnte einer der Menschen sein, die ihre Nase in ein Buch steckten oder mit Reisegefährten plauderten, sich ganz normal die Zeit vertrieben. Ein Mann las die Lokalzeitung von heute, dem 10. November, und während sie zerstreut zu ihm hinübersah, fiel ihr auf, dass die verheerende Bilanz der Spanischen Grippe auf der ersten Seite mit keinem Wort erwähnt wurde. Immer noch wurden Menschen krank und starben, und selbst wenn die Epidemie im Westen bei Weitem nicht so schlimm grassierte wie im Osten, war sie noch nicht vorüber.
Als sie sich wieder zum Fenster drehte, sah sie unter der Brücke, über die sie gerade fuhren, ein tiefes Flusstal. Aber vor ihrem inneren Auge tauchte immer wieder Cole auf. Die Erinnerung daran, wie Cole ihre nackte Haut gestreichelt, ihre Hand gehalten hatte, wie sie die Wärme seines Körpers durch sein Hemd hindurch gespürt hatte.
Noch mehr Fragen nagten an ihr. Hätte sie sich mit ihm an ihrer Seite gegen die kleine, aufgebrachte Gruppe in Powell Springs behaupten können? War sie es den Bewohnern ihrer Stadt schuldig, zu bleiben und sich um sie zu kümmern, anstatt sie dem eingebildeten Dr. Pearson zu überlassen?
Und in all ihrer Verzweiflung war ihr schlimmster Gedanke: Hatte sie ihr gebrochenes Herz dieses Mal selbst verschuldet?
»Olympia!«, verkündete der Schaffner mit dröhnender Stimme. »Zehn Minuten bis Olympia, Washington!«
Jessica, die bloß noch ein Nervenbündel war, fuhr bei dieser Ankündigung zusammen.
»Entschuldigung«, wandte sie sich an den Schaffner mit seinem Mundschutz und winkte ihn heran. »Wie weit ist es noch bis Seattle?«
Er konsultierte seine große Eisenbahner-Taschenuhr. »Das wären noch einmal drei Stunden, Ma’am, die Aufenthalte mit eingerechnet.« Sie nickte dankend, dann ging er weiter durch den Gang, um seine Ankündigung zu wiederholen.
Drei weitere Stunden wie diese. Vielleicht konnte sie am Bahnhof in Olympia kurz aussteigen und sich im Waschraum das Gesicht waschen und wieder sammeln. Sie musste einfach.
Es klang nach einer gewaltigen Aufgabe. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so verwirrt und allein gefühlt.
Am nächsten Nachmittag stand Cole in der Schmiede und betätigte den Blasebalg, bis die Glut so heiß war, dass sie ein Steak in einer Minute zu Asche verbrannt hätte. In der Box wartete Mr. Brights wunderschöner Fuchs Morgan, den er zum Ausliefern der Lebensmittel benutzte, auf neue Hufeisen.
Cole wollte eigentlich gar nicht hier sein. Aber das einzige Mittel gegen Kummer, das er kannte, abgesehen von Alkohol, war Arbeit. Harte Knochenarbeit, die jeden Muskel um Gnade winseln und ihn abends in einen todesähnlichen Schlaf sinken ließ. Am Abend zuvor hatte er die Flasche Whiskey mit in die Schmiede genommen, und jetzt stand sie immer noch unberührt auf dem Regal in der Sattelkammer. Es fehlten nur die gut fünf Zentimeter, die er sich mit Pop geteilt hatte. Sich zu betrinken, hätte auch nichts geändert – er hätte sich heute nur noch elender gefühlt.
Und er fühlte sich schon ziemlich elend.
Das Jahr 1918 war für niemanden ein gutes Jahr, aber Coles Eindruck nach hatte es die Braddocks ganz besonders schlimm getroffen. Das einzig Positive, das er vermelden konnte, war, dass die ganze Familie durch göttliche Gnade oder Glück oder irgendeine Fügung des Schicksals bisher von der Grippe verschont geblieben war, und das konnten nicht viele von sich behaupten.
Plötzlich hörte er über das Geräusch seiner Werkzeuge hinweg die Feuerglocke. Sie befand sich neben dem Rathaus, und wenn sie ertönte, wurde von jedermann erwartet, dass er alles stehen und liegen ließ und zu Hilfe eilte. Cole beugte sich vor, um die Zange niederzulegen, die er in der Hand hielt, und in seiner Hast streifte er dabei mit der Schulter die Esse. Fluchend sah er nach unten und entdeckte ein zweieinhalb Zentimeter langes, dreieckiges Brandloch auf seinem Hemd und eine hässliche rote Wunde darunter. Granny Maes
Weitere Kostenlose Bücher