Heimkehr am Morgen (German Edition)
ihr geringstes Problem. Sie sah sich noch einmal in der Wohnung um, in der sie die letzten Wochen verbracht hatte. Zum Schluss warf sie einen Blick ins Schlafzimmer, wo sie und Cole sich geliebt hatten und wo sie sich zumindest einige Stunden lang geborgen gefühlt hatte, beschützt vor der Welt und dem Berg von Problemen, die sie in den vergangenen Jahren hatte bewältigen müssen.
Als sie den Schlüssel für die Eingangstür auf den Arbeitstisch legte, hielt sie einen Moment inne und fuhr mit den Fingern darüber, bevor sie das Haus verließ und die Tür zum allerletzten Mal hinter sich zuzog.
Bepackt mit einem Koffer, ihrer Arzttasche und der Umhängetasche ging sie im morgendlichen Dunkel vor der Dämmerung Richtung Bahnhof und achtete sorgfältig darauf, nicht zu Coles Schmiede hinzusehen. Sie war entschlossen, falls nötig vor dem Bahnhof zu warten, bis er öffnete.
Aber aus den Fenstern des Gebäudes drang warmer Lichtschein. Sie stellte ihr Gepäck ab und öffnete die Tür.
»Miss Jessica! Was für eine Überraschung!«, begrüßte sie Abner Willets am Fahrkartenschalter. Von irgendwo hinter ihm drang der Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee zu ihr. »Sie haben gestern Abend eine turbulente Gemeindeversammlung verpasst!«
»Davon habe ich schon gehört. Mr. Willets, ich hätte gern eine Fahrkarte für den ersten Zug nach Seattle.«
Der alte Mann sah sie unter seinem grünen Augenschirm hervor an, und ein leichtes Stirnrunzeln ließ seine buschigen Augenbrauen zusammenstoßen. »Sie verlassen uns? Ich hatte den Eindruck, dass Sie jetzt, da dieser Pierce sich davonmacht, hierbleiben.« Abner hatte sich den Namen dieses Snobs immer noch nicht richtig gemerkt. Wenn sie sich nicht so elend gefühlt hätte, hätte sie sich darüber amüsiert. »Cole hat jedenfalls was in der Richtung angedeutet.«
Sie schluckte schwer. »Nein, ich hatte immer die Absicht, nach Washington weiterzureisen, sobald der andere Arzt da ist.«
»Hm. Dann stehen wir wohl wieder ganz ohne Doktor da, denn Pierce wird auf keinen Fall bleiben.«
»Wann, sagten Sie, fährt der Zug?«, soufflierte sie ihm, bemüht, das Thema zu wechseln. Ihr Herz fühlte sich an, als wäre es auf die Größe einer Melone angeschwollen und würde ihr die Kehle zudrücken.
Er blätterte in seinem Fahrplan und sah auf die Wanduhr. »Sie haben Glück. Der nächste kommt um acht Uhr neunundvierzig. Es gibt nur zweimal die Woche einen Frühzug nach Portland. Dort haben Sie an der Union Station Anschluss nach Seattle.« Sie nickte und schob mit zitternden Fingern das Fahrgeld unter dem Messinggitter hindurch, das sie beide trennte.
Wieder spähte er unter seinem Augenschirm hervor. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Jessica? Ich weiß, dass Sie alle Hände voll zu tun hatten, seit Sie hier angekommen sind.«
Mühsam brachte sie ein unsicheres Lächeln zustande. »Mit mir wird bald wieder alles in Ordnung sein, Mr. Willets. Es stimmt, die letzten Wochen waren sehr anstrengend.«
Er griff unter dem Gitter durch und tätschelte ihr die Hand. »Wir sind Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für uns getan haben. Das möchte ich Ihnen nur sagen, falls Sie sich schlecht fühlen wegen dieser Mist- äh, Unruhestifter. Die meisten von uns waren froh, dass Sie da waren.«
Sie neigte den Kopf, um ihre Tränen vor ihm zu verbergen. Dann ging sie zu einer der Bänke und wartete auf die Ankunft des Zuges.
Kapitel 22
Emmaline saß an ihrem Küchentisch, rauchte ihre letzte Lucky Strike und war tief in Gedanken, als sie ein leichtes Klopfen an der Tür hörte. Seit jenem schrecklichen Tag, an dem Lambert herein-geplatzt war, schloss sie auch tagsüber ab. Sie warf einen kurzen Blick aufs Bett, um sich zu vergewissern, dass es vorzeigbar war – nur für den Fall –, stand leise auf und schlich auf Zehenspitzen zum Fenster, um zu erspähen, wer draußen stand. Aber aus diesem Winkel war nichts zu erkennen.
Ohne ein Geräusch zu machen griff sie zu ihrer geladenen Flinte und zielte auf die Tür. »Wer ist da?«
»Em, ich bin’s. Whit Gannon.« Sie musste ganz in ihre Sorgen versunken gewesen sein, dass sie sein Automobil nicht gehört hatte.
»Hast du wieder jemanden dabei?«
»Nein, ich bin allein.«
Die Hand immer noch am Lauf der Flinte, atmete sie erleichtert auf und öffnete die Tür einen Spalt. Sein eisgrauer Schopf und Schnurrbart waren ein tröstlicher Anblick.
Als er ihre Waffe sah, lächelte er. »Ich werde dir gewiss keinen Grund geben,
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