Heimkehr am Morgen (German Edition)
wie ein ganzes Leben. Mit diesem Gefühl der abgrundtiefen Einsamkeit und Isolation, obwohl er von Tausenden von Männern umgeben war, hatte er nicht gerechnet, als er seine Heimat verlassen hatte. Wie kann sich ein Mensch mitten im Gewühl anderer Menschen einsam fühlen? Aber bei ihm war es so.
Mit geschlossenen Augen stellte er sich Susannahs lange schwarze Locken vor, ihre zarten Wangen, die weiche Rundung ihrer Hüfte unter dem Hemd, die Art, wie sie ihn mit ihren schokoladenbraunen Augen ansah, wenn sie allein waren. Er stellte sich vor, wie sie bis zu den Schenkeln im hohen Sommergras stand, ihn anlächelte und mit einem Funkeln in den Augen lockte, und wie er zu ihr hinging und seine Hände in ihrem Haar vergrub. Dann zog sie ihn hinunter ins tiefe Gras, wo niemand sie finden würde.
Wenn er sich konzentrierte, konnte er sich an ihren Duft erinnern – Kirschbaumrinde und Mandeln. Unvermittelt nahm er einen tiefen Atemzug, und das holte ihn wieder in die Gegenwart zurück.
Die Gräben rochen wie – nun ja, es gab kein geeignetes Wort, das zu beschreiben. So vieles trug zu dem Gestank bei: Tausende nur dürftig zugeschaufelte Gräber, gekochtes Essen, übergelaufene Latrinen, ungewaschene Körper, verrottende Sandsäcke, alles vermischt mit dem Geruch nach modrigem Schlamm. In der Dunkelheit konnte er die braunen Ratten nicht erkennen, die ohne Scheu durch die Gräben huschten. Diese dreckigen Nager waren oft so groß wie Hauskatzen, da es ihnen nie an Nahrung fehlte. Sie lebten von den menschlichen Überresten, die überall verstreut lagen. Einige Veteranen schworen, dass die Ratten das bevorstehende Granatfeuer der Deutschen spürten und sich rechtzeitig davonmachten, bis es vorbei war.
Warum er ursprünglich einmal geglaubt hatte, Krieg sei eine edle und romantische Erfahrung, war ihm inzwischen entfallen. Nichts an seiner Arbeit als Pferdezüchter hatte ihn auf Dinge vorbereitet wie den kilometerlangen Stacheldraht, das Maschinengewehrfeuer, das ein Dorf innerhalb von Minuten in Schutt und Asche legen konnte, und die unaussprechlichen, unmenschlichen Gräuel, deren Zeuge er geworden war. Aber auf das, was er hier erleben musste, war keiner der Männer vorbereitet gewesen. Verflucht noch mal, er hätte doch wenigstens wie manch anderer warten können, bis er eingezogen wurde.
Manchmal … nur eine Minute lang … wünschte er, er hätte nachgegeben, als Cole und er darüber stritten, wer gehen und wer bleiben sollte. Cole hatte in den Krieg ziehen wollen.
Natürlich hatte Pop wie immer seine Sprüche geklopft und getönt, dass beide Söhne dem Namen Braddock Ehre machen würden. Für Riley hatte es außer Frage gestanden, dass er sich freiwillig melden würde. Bei Cole hatte Pops Genörgel jedoch letzten Endes nicht gewirkt, und Riley war froh darüber. Zwischen den Brüdern hatte es Groll darüber gegeben, wie die Dinge gelaufen waren. Aber jemand musste Susannah mit den Verträgen helfen, und sein Vater war nicht in der Verfassung dazu.
Die goldenen, strahlenden Tage in jenem endlosen Sommer, an den er sich so gut erinnerte – sie waren der Grund, warum erhier in Frankreich war. Warum er und die anderen einen Feind bekämpften, der ihre Freiheit grausam und tyrannisch zerstören wollte.
So hatte man es ihnen zumindest gesagt. Aber er glaubte nicht mehr daran. Falls er starb, was hätte er dann von der Freiheit?
Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel. Nicht viel zu sehen.
Wenigstens hatte der Regen aufgehört.
Kapitel 5
Nach dem Mittagessen ging Jessica zum Telegrafenamt, um Dr. Martin am Krankenhaus von Seattle ein Telegramm zu schicken und ihn von der Änderung ihrer Pläne zu unterrichten. Sie reichte Leroy Fenton, dem alten Telegrafisten von Powell Springs, ihre Nachricht.
»Seattle, ja? Hab Neuigkeiten aus der Gegend gehört – anscheinend haben sie dort oben gerade eine Grippewelle.«
»Wirklich?«
Leroy rückte seinen Ärmelhalter zurecht. »Es heißt«, fuhr er fort, »die Grippe sei wahrscheinlich in Camp Lewis ausgebrochen und habe sich dann auf einige Zivilisten übertragen, die sich dort eine Parade der Infanterie der Nationalgarde angeschaut haben.« Er zuckte die Achseln. »Die Ärzte dort meinen aber, wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen. Andere Militärlager hätten sie auch schon, aber sie hätten die Lage im Griff. Das macht dann drei Dollar, Miss Jessica.«
Jess hatte selbst schon von einigen Grippeausbrüchen gehört – von manchen
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