Heimkehr am Morgen (German Edition)
Dampf aus den Waschzubern quoll und von den Bügeleisen und der Wäschemangel aufstieg. Von irgendwoher kamen Essensgerüche. Vielleicht von Mae Rumsteadts Café ein Stück weiter die Straße hinunter, oder aus der Küche im ersten Stock, wo Clarence Wegner und seine Frau wohnten.
Plötzlich erinnerte sie sich lebhaft an den durchdringenden Geruch von gekochtem Kohl und ranzigem Schweineschmalz in dunklen, stickigen Fluren, die durch ebenso dunkle, stickige Treppenhäuser miteinander verbunden waren. Kinder, die in der Sommerhitze quengelten, ihre Mütter, die schrill keiften oder verzweifelt aufstöhnten. Eine Kakofonie von erhobenen Stimmen voller Zorn, Schmerz oder Hilflosigkeit drang durch die dünnen Wände der Mietskasernen. Egal, welches Gebäude – in New Yorks Armenvierteln waren sie alle gleich. Die Hölle auf Erden. In einem Raum ein kleines Mädchen mit einem gebrochenen Arm, am Ende des Flurs eine frischgebackene Mutter mit strähnigem Haar, diegegen das Kindbettfieber ankämpfte, das sie dahinzuraffen drohte, und wieder in einem anderen eine Frau, die ausgezehrt und hohläugig auf einer nackten, fleckigen Matratze lag, nur eine zerlumpte Steppdecke zum Zudecken, einen Tumor von der Größe einer Zitrone in der Brust.
Die Hitze.
Die Ratten.
Die Armut.
Die Hoffnungslosigkeit.
All das suchte sie in ihren Träumen heim, aber Jess hatte sich nicht mehr so lebhaft daran erinnert, seit sie New York für eine Auszeit in Saratoga Springs verlassen hatte.
»… alles in Ordnung, Miss Layton? Sie sehen ein bisschen blass aus.«
Ruckartig wurde Jessica in die Gegenwart zurückgeholt. »Ja, entschuldigen Sie.« Sie presste die Hand an die Stirn. Ihr klebte das Kleid am Rücken, und ihr Herz schlug so heftig wie die Basstrommel der Blaskapelle. Plötzlich schnürte ihr ein Gefühl von Panik die Kehle zu, und sie bemühte sich, es zu verbergen. »Es – es ist sehr warm hier drin, finden Sie nicht?«
»Aber sicher, die Sommermonate sind in unserem Gewerbe nicht einfach, auch wenn der neue elektrische Ventilator sie erträglicher macht.« Mr. Wegners Gesicht war von einem glänzenden Schweißfilm überzogen. Er deutete auf die rotierenden Ventilatorblätter in ihrem Drahtkäfig. »Aber kommen Sie doch nächsten Monat – von November bis März ist es hier angenehm warm.«
Jessica zog ein Taschentuch hervor. »Nun ja, ich – ich muss mich beeilen.« Wenn sie nicht bald hier rauskäme, würde sie noch in Ohnmacht fallen. Oder Schlimmeres.
»Selbstverständlich. Ich schicke eines der Mädchen, sobald …«
Aber Jess hatte sich schon aus der Tür geschoben und stand auf dem Gehweg. Unter der Markise hielt sie inne und wischte sich mit dem zusammengeknüllten Tuch über die Schläfen. Es war eine Erleichterung, wieder an der frischen Luft, in der Kühle zu sein, doch das Gefühl von Panik, das sie erfasst hatte, machte ihr Sorgen.
Wann würden sie diese Erinnerungen in Ruhe lassen? Hatten sie sich so tief in ihr Gedächtnis eingegraben, dass sie wieder und wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen würden, wie Szenen aus einem Film? Nein, beruhigte sie sich, das konnte nicht sein. Wenn sie erst einmal in Seattle war, würde es ihr besser gehen – sie würde ganz neu anfangen, und neue Erinnerungen würden die alten überlagern.
Sie holte tief Luft, um wieder Haltung zu gewinnen, stopfte das feuchte Taschentuch in ihre Rocktasche und machte sich auf den Weg zurück zur Hauptstraße. Als sie in der Praxis ankam, sah sie, dass Eddie Cookson fort war.
Gut. Wenigstens war jemand gekommen, um ihn abzuholen. Was er jetzt vor allem brauchte, waren Bettruhe und vernünftige Pflege.
Kapitel 6
»Was hast du denn da vor, Junge?« Shaw Braddock brachte sein Pferd vor Coles Haus zum Stehen.
Verdammt, dachte Cole und packte den Griff des Koffers fester. Er hatte gehofft, der ganze Wirbel wegen der Kriegsanleihen würde seinen Vater noch eine Weile bei Tilly’s festhalten, bis Cole Jessicas Hab und Gut in die Praxis gebracht hatte. Vielleicht wusste Shaw noch gar nicht, dass der Bürgermeister sie als Vertretung für Pearson engagiert hatte und dass sie in die Wohnung des Doktors ziehen würde. Und jetzt stand er, Cole, hier vor der Praxis mit Jess’ Gepäck in seinem Ford. Neben sich Winks Lamont, den er angeheuert hatte, damit er ihm mit dem Bücherkoffer half. Es würde ihn nicht mehr kosten, als dem alten, einfältigen Säufer, der sowieso die meiste Zeit damit zubrachte, an Tilly’s Tresen Drinks zu
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