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Heimkehr in Die Rothschildallee

Heimkehr in Die Rothschildallee

Titel: Heimkehr in Die Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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aber sie gingen vorwärts, als hätten sie eine Zukunft, für die es sich zu gehen lohnte. Den Gott, der sie verlassen hatte, baten sie nur noch um die eine Gnade: Die Kinder, die sie aus dem Leben führten, sollten nicht merken, was mit ihnen geschah. Die Kinder liefen mit gesenktem Kopf. Sie sahen weder Baum noch Haus, noch Strauch, nur Füße und Schuhe, die glänzten, als gingen sie in ihren Festkleidern zur Synagoge.
    »Warum?«, hatte die zehnjährige Fanny bemängelt, »warum soll ich denn mitten in der Nacht meine Schuhe putzen? Das hab ich doch noch nie gemusst.«
    »Weil man nicht mit ungeputzten Schuhen auf eine Reise geht«, hatte ihre Großmutter Betsy geantwortet, »das hast du doch noch nie gedurft.«
    Nun liefen Großmutter und Enkelin mit denen, die nicht mehr an das Leben dachten. Wenn Griesinger und seine Kumpane die Schwächsten der Wehrlosen quälten, weil sie das Tempo nicht halten konnten, drückte sich Betsy Sternberg wie früher an ihren Mann. Jedoch, anders als in den Tagen der Sicherheit, war sie es, die nun tröstete. »Sie wird kommen«, sagte sie leise. »Ich spüre es. Unsere Anna hat immer Wort gehalten.«
    »Sie hat es nicht mehr in der Hand, ihr Wort zu halten«, flüsterte Johann Isidor zurück. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie überhaupt daran denkt. Nicht in ihrem Zustand.«
    Vor ihm und Betsy lief Victoria, einst die schönste und schwierigste seiner vier Töchter. Victoria Feuereisen, geborene Sternberg, war dreiunddreißig Jahre alt, nun nicht mehr schön und nicht mehr schwierig; sie war eine Frau ohne Illusionen und ohne Kraft, die seit dem ersten sogenannten »Judentransport« nicht mehr an Rettung glaubte. Trotzdem hatte Victoria für den letzten Tag in ihrer Vaterstadt den schwarzen Mantel mit dem Fuchspelzkragen angezogen. Der Mantel, Anfang der Dreißigerjahre auf einer Reise mit ihrer Schwester Clara in einem bekannten Berliner Modehaus gekauft, spendete keinen Trost und keine Wärme. Er war in Brusthöhe mit dem gelben Stern gekennzeichnet und erzählte nicht mehr vorstellbare Geschichten von einer jungen Träumerin, die zum Himmel hatte fliegen wollen und mit verbrannten Flügeln heimgekehrt war. Nun erbat auch Victoria, die zu eigensinnig, zu töricht gewesen war, die Handschrift an der Wand zu deuten, von Gott nur noch die eine Gnade – ihr Sohn möge auf seinem letzten Weg nicht begreifen, was geschah.
    »Zieh ihm die Mütze tiefer ins Gesicht«, flüsterte Betsy, »da sieht er nicht, was hier geschieht.«
    Der achtjährige Salo hatte seit dem Aufbruch aus dem Zwangsquartier die Hand der Mutter nicht losgelassen. Er war klein für sein Alter, hatte starkes Untergewicht, hustete seit Monaten und litt seit dem Sommer an Fieberanfällen. Schon immer war er schüchtern und ängstlich gewesen: Er sprach wenig und fragte selten etwas, bekam aber trotzdem mehr vom Geschehen mit, als ein Achtjähriger verkraften konnte. Seit dem Aufbruch war Salo zwei Mal hingefallen, nun stolperte er immer öfter. In dem Flüsterton, den er sich im Zwangsquartier angewöhnt hatte, klagte er über Schmerzen in den Beinen.
    »Wir sind bald da«, sagte Victoria, »dann kannst du dich ausruhen. Ganz lange.« Sie schaute aus nach Anna, ihrer verlässlichen, furchtlosen, immer zum Helfen bereiten Halbschwester, doch sie sah nur ihre Leidensgenossen, die ohne Gesicht waren, und sie sah die glühenden Gesichter der SA-Leute, die das Leid der Getriebenen von Kilometer zu Kilometer größer machten. Wie lange noch, fragte sich Victoria, würde sie den Weg aushalten, ohne sich aufzugeben?
    Fanny lief hinter Mutter und Bruder her – ohne eine Hand, die ihre wärmte, und schon ohne Kontakt zu den Menschen, die ihrem Leben Wärme gegeben hatten. Sie war zehn Jahre alt und seit drei Jahren, seitdem die Synagogen gebrannt hatten, kein Kind mehr. Niemand brauchte Fanny zu sagen, was sie zu tun hatte, worüber sie reden durfte und dass Schweigen Überleben hieß. Nie erwähnte das Mädchen den geliebten Vater, der die Familie im Schutz der Dunkelheit verlassen hatte, nach Holland entkommen war und bis zum Kriegsausbruch seine Frau erfolglos beschworen hatte, mit den Kindern zu ihm zu kommen.
    In der Nacht vor dem Entsetzen hatte es keinen Luftalarm für Frankfurt gegeben. Für die Menschen, die eine Wohnung hatten, ein Bett und Kochtöpfe, die ihren Kindern Märchen vom Glück vorlasen und die kein gelber Stern auf der Kleidung brandmarkte, war es ein Sonntag wie im Frieden. Die Hausfrauen

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