Heimliche Helden
nennen. Unser Held! Die Medaille wird ihm um den Hals gehängt. Jeder Held braucht etwas Metall. Ein paar Sekunden haben sich ein weiteres Mal verwandelt: in Gold, einen Rekord, Geld. Felix heißt nun er. Und da Begehren immer mehrfach miteinander verknüpft ist, wird er sich bald vor Fans nicht mehr retten können. Oder wollen.
– Hast du Joghurts mitgebracht?, ruft meine Schwester aus der Küche.
– Vergessen.
– Ich hab dir gesagt, dass du’s aufschreiben sollst.
– Mich hat Felix abgelenkt.
– Wer ist denn das schon wieder?
Im nächsten Hotel werde ich an Krull denken. An die mit Löchern durchschossene Zeit, nach den großen Kriegen des alten Jahrhunderts, umgeben von den Kriegen und Konflikten des neuen. Wie rasch ist das letzte Dezennium des Jahrtausends versunken: Jahre, in denen Missiles verrotteten, Rüstungsetats sanken, Angst sich beruhigte, Liebespartys auf den Straßen stattfanden. Wir sind hineingeflogen worden in eine Zeit, in der das Beharren auf Kultur nötig sein wird, auch als Insistieren auf einem nicht auf schwarz-weiße Botschaften zielenden Lesen. Denn dies zeigt Krull uns dort, wo er glücklich ist: ein freies Umgehen mit sich selbst, das es versteht, ein Als-ob als Erfindung von Möglichkeiten für die eigene Person aufzufassen, führt dazu, dass neue Wirklichkeiten entstehen. Manns letzter Roman zeigt es Lesern, die lesen, um zu atmen, um die Bewegungskräfte zu trainieren in Psyche und Kopf. So sehr, dass wir an das Begehren unter der Wirklichkeit (des Buches, unserer eigenen) stoßen. Niemals gibt es eine einfache Wahrheit eines Textes oder Lebens. Stoßen also an die beängstigende Vertauschbarkeit unserer Rollen. Wir mögen uns heute auf der Seite der »Richtigen« glauben; wer indes sagt uns, dass es morgen noch so ist.
– Hast du jemanden kennengelernt?
Meine Schwester steht hinter mir und wartet auf eine Antwort.
Mich selbst? Eine Antwort weiß ich nicht.
Als ich abends im Bett liege, fliegen die Helden wieder. Am Auslauf der Rampe steht Thomas Mann und bewundert den Augenblick. Das Zehntel einer Sekunde ist himmelblau, skispringeraugenblau, blau wie die Augen Maria Kuckucks, als Krull sie begeistert umarmt – in der Rolle eines anderen (in Gedanken auch an einen anderen), geschrieben von Thomas Mann (in Gedanken an Krull früher und jetzt, sich selbst, das lange Schreiben), erinnert von mir – in Gedanken an das Mädchen, das ich einmal war, und die Person, die ich heute sein könnte, die den Roman des Helden, dessen Glück aus Rede- und Erinnerungsakten besteht, soeben noch einmal gelesen hat und sich nun auch daran erinnert.
101 Zitiert nach Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil , Frankfurt/M. 1974, S. 441 f.
102 Krull , S. 442
103 Krull, S. 449
104 »Wir Weiber mögen von Glück sagen, dass unsere runden sieben Sachen euch so gefallen. Aber das Göttliche, das Meisterwerk der Schöpfung, Standbild der Schönheit, das seid ihr, ihr jungen, ganz jungen Männer mit den Hermes-Beinen.« Krull , S. 444
105 Krull , S. 513 f.
MARSCHGEPÄCK
TEXTNACHWEIS
WESEN aus Muskel, Makel und Mensch
Gedanken zum Helden mit Hilfe des Nibelungenliedes
Erstveröffentlichung: volltext , 3/2012
WESEN aus Sturz, Zeichen und Blitz
Gedanken zum Helden mit Hilfe Heinrich von Kleists
Der Mann
Erstveröffentlichung: »Eine Fürsichblüte. Dichter des Gerüchts und des Zwischenraums, träumender Schreibblitz: Heinrich von Kleist«, in: Literaturen 1, Januar/Februar 2011, S. 28–31
Der Andere
Erstveröffentlichung: »Der andere ist ein Mensch«, in: volltext , 2/2009
Der Eichenprozessionsspinner und das Vergehen der Zeit
Johann Peter Hebels Kalendergeschichten
Erstveröffentlichung: Johann Peter Hebel, Kästchengeschichten, ausgewählt und literarisch beleuchtet von Ulrike Draesner. Lengwil 2009, Libelle Verlag
Helden des Kampfes und der Brut. Schreibversuch über Jean-Henri Fabres Schreibversuch über einen lebenslangen Feldversuch
Erstveröffentlichung: Nachwort zu Band IV von Jean-Henri Fabre, Erinnerungen eines Insektenforschers, Aus dem Französischen von Friedrich Koch, Gesamtausgabe in 10 Bänden, Matthes&Seitz, Berlin 2010–2015, 2012, S. 320–335
Schönen, Schreiben, Schießen. Tania Blixen, das Ich und sein Ort – eine afrikanische Lektion
Erstveröffentlichung: »Ein Löwen schießendes Frauenschreibwesen«, in volltext 2/2010, und Nachwort zu Tania Blixen, Jenseits von Afrika , Manesse, München 2010, S.
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