Heimliche Wuensche
bei ihrem Vornamen rief. »Also gut, Mr. Montgomery, ich werde mich zu Ihnen setzen.« Sie nahmen wieder auf der Schaukel Platz, wo sie am Nachmittag so kameradschaftlich beisammengesessen hatten, aber Nellie sagte diesmal kein Wort.
»Was kann man in Chandler unternehmen?« fragte er.
»Einen Kirchenbasar besuchen, im Park spazieren gehen, mit der Kutsche ausfahren — nicht viel. Wir sind eine langweilige kleine Stadt. Terel kennt hier allerdings jeden und kann Sie überall vorstellen.«
»Wollen Sie mit mir in vierzehn lägen zum Erntedankfest-Ball bei den Taggerts gehen?«
Sie blickte ihn scharf an. »Zu welchen Taggerts?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen.
»Zu Kane und dessen Frau Houston«, antwortete er, als gäbe es gar keine anderen Taggerts in dieser Stadt.
Nellie saß da und sah ihn groß an. Kane Taggert war einer der reichsten Männer Amerikas und wohnte in einer prächtigen Villa auf einem Hügel über der Stadt. Seine wunderschöne Frau Houston gab elegante Parties für die Freunde der Familie und veranstaltete einmal im Jahr einen großartigen Ball. Im letzten Jahr waren sie und Terel zu diesem Ball geladen worden. Terel hatte den Ball besucht: aber sie war zu Hause geblieben. Auf diesem Ball mußte irgend etwas passiert sein — Nellie wußte nicht, was —, und in diesem Jahr hatten sie zu Terels Entsetzen keine Einladung bekommen.
»Terel würde zu gern zu diesem Ball gehen«, sagte Nellie. »Sie würde ihn zu gern . . .«
»Ich lade Sie zu diesem Ball ein, nicht Ihre Schwester.«
Nellie wußte nicht, was sie diesem Mann nun sagen sollte. Als sie zwanzig gewesen war und viel schlanker als heute, hatte sie von etlichen Männern Einladungen bekommen, war aber kaum in der Lage gewesen, diesen Folge zu leisten. Mit zwanzig hatte sie die Verantwortung für den Haushalt gehabt, hatte ihren Vater und ihre zwölfjährige Schwester versorgen müssen — und ihr Vater wollte sein Essen immer pünktlich auf dem Tisch haben.
»Mr. Montgomery, ich . . .«
»Jace.«
»Wie bitte?«
»Mein Name ist Jace.«
»Ich könnte Sie unmöglich mit Ihrem Vornamen anreden, Mr. Montgomery. Ich habe Sie ja eben erst kennengelernt.«
»Wenn Sie mit mir auf den Ball gehen, lernen Sie mich auch besser kennen.«
»Das kann ich doch gar nicht. Ich muß . ..« Ihr wollte einfach kein Grund einfallen, warum sie nicht zu diesem Ball gehen sollte; aber sie wußte, daß sie unmöglich dort hingehen konnte.
»Ich werde den Job annehmen, den Ihr Vater mir anbietet, wenn Sie mit mir zu diesem Ball gehen. Und wenn Sie mich Jace nennen.«
Nellie wußte, daß ihr Vater sich diesen Mann als Mitarbeiter wünschte — wußte, daß er jemand brauchte, der ihm half, sein Fuhrunternehmen zu leiten. Aber das alles ergab für sie keinen Sinn. Warum versuchte er sie dazu zu überreden, mit ihm irgendwo hinzugehen? »Ich ... ich weiß nicht, Mr. Montgomery. Ich weiß nicht, ob mein Vater mich entbehren kann. Und Terel braucht . . .«
»Was diese junge Dame braucht, ist . . .« Er beendete seinen Satz nicht. »Ich werde diesen Job nicht übernehmen, wenn Sie jetzt nicht einwilligen, mit mir diesen Ball zu besuchen. Nur einen Abend — das ist alles, was ich von Ihnen verlange.«
Nellie stellte sich vor, wie sie am Arm dieses außerordentlich hübschen Mannes das große weiße Haus auf dem Hügel betrat, und auf einmal spürte sie ein großes Verlangen, diesen Ball zu besuchen. Nur ein einziges Mal wollte sie abends ausgehen. »Also gut«, flüsterte sie.
Er lächelte auf sie hinunter, als er jetzt vor ihr stand, und selbst im Dunklen konnte sie sein Wangengrübchen erkennen. »Gut«, sagte er. »Ich freue mich sehr. Ich werde diesen Ballabend kaum erwarten können. Ziehen Sie sich etwas Hübsches an.«
»Ich habe nichts ...« Sie brach mitten im Satz ab. »Ich freue mich ebenfalls auf diesen Abend«, flüsterte sie.
Er lächelte wieder, schob die Hände in die Hosentaschen und verließ pfeifend den Garten.
Nellie blieb eine Weile regungslos sitzen. Was für ein ungewöhnlicher Mann, dachte sie bei sich. Was für ein außerordentlich ungewöhnlicher Mann.
Sie lehnte sich auf der Schaukel zurück und sog den süßen Duft der Blumen ein. Sie würde mit einem Mann zu diesem Ball gehen. Und nicht mit irgendeinem Mann. Nicht mit dem fetten Sohn des Fleischers, den Terel ihr stets empfahl, oder mit dem siebzehnjährigen Sohn des Gemischtwarenhändlers, der sie zuweilen mit großen Augen musterte, und auch nicht mit dem sechzig Jahre
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