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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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gekommen. Und wahrscheinlich habe ich nicht schnell genug gearbeitet, ich war die letzten Stunden mit meinen Gedanken woanders. Oder ich habe nicht so genäht, wie es sein sollte. Das wären ja bestimmt 200 Büstenhalter, die sie dann wegwerfen müssten. O weh.
    – Guten Tag, sagte Nermin, wie geht es dir?
    – Dem Herrn seis gedankt. Und Ihnen?
    – Gut, gut. Hattest du irgendwelche Probleme heute?
    – Nein. Ja. Also … Ich habe den Weg nicht gefunden. Es wird nicht mehr vorkommen.
    – Schon gut, schon gut, sagte Nermin. Was hast du in der Türkei gemacht?
    – Ich war Hausfrau.
    Dass sie eine Nähmaschine zu Hause hatte, machte sie ja noch lange nicht zu einer Schneiderin.
    – Hausfrau, wiederholte Nermin und lächelte. Weißt du, wie viele BHs du heute genäht hast?
    Gül schüttelte den Kopf. O weh.
    – 312. Und weißt du, wie viel die anderen schaffen?
    |28| Bestimmt über 500, dachte Gül.
    – Ich sags dir. Die, die schnell arbeiten, schaffen etwa 380. Und du kamst fast eine Stunde zu spät. Wir arbeiten hier Akkord, das heißt, du kannst eine Menge Geld verdienen. Sonja ist sehr zufrieden mit dir. Das soll ich dir sagen. Wir können immer gute Leute wie dich hier gebrauchen.
    Dann sagte Nermin etwas auf Deutsch zu Sonja und wirkte stolz dabei, fast schon hochmütig, diese Nermin, die wie eine junge, reiche Dame aus besseren Kreisen aussah in ihren Nylonstrümpfen und mit den hochtoupierten Haaren, mit ihrem Rock, der kaum das Knie bedeckte. Sie musste in Istanbul ein gutes Leben gehabt haben. Gül konnte sich nicht vorstellen, was sie hier in der Fremde verloren hatte. Oder suchte.
    Gül hätte sich gern gefreut, dass man zufrieden mit ihr war, doch der Heimweg bereitete ihr Sorgen und die Gedanken an Ceren, die zwar seltener geworden waren, aber deswegen nichts von ihrer Schwere verloren hatten.
    Erst als sie nach Hause kam, den geöffneten Brief auf dem Küchentisch sah und ihn las, floss etwas durch ihren Körper, das sich warm und weich anfühlte, ihr Herz wurde leicht. Das erste Mal, seit sie in Deutschland angekommen war, so schien es ihr.
     
    – Mützen für die Zwillinge, sagt Fuat, das ist also unser Weg zu Geld, wirst ja morgen wohl pünktlich sein.
    Mützen für die Zwillinge, so preisen die Straßenhändler in Istanbul lauthals ihre BHs an.
    – Und wenn wir Geld haben, nehmen wir uns eine größere Wohnung und holen die Kinder nach.
    – So Gott will, sagt Fuat, aber es klingt mehr nach: Schauen wir mal.
    Die Gewissheit, dass es Ceren gutgeht, dass ihrer Tochter nichts passiert ist, und die Aussicht darauf, mit ihren Kindern hier zu leben, nehmen Gül die Sorge um den morgigen Weg.
    |29| Das Glück in der Zukunft ist immer das einfachste, wird sie später sagen, aber ohne dieses verschobene Glück würde man gar nicht mehr arbeiten.
    Fuat glaubt auch an ein Glück in der Zukunft, an einen Gewinn im Lotto oder eine lange Strähne beim Spielen, an Dividendenausschüttungen und Zinsen. Oft sitzt er am Küchentisch und rechnet laut. Wenn man dieses Wochenende soundso viel gewinnen würde, einen Teil davon anlegen, ein Auto kaufen, ein Grundstück in der Türkei, den Grundstein für ein Haus legen, ins Immobiliengeschäft einsteigen … Man könnte sich den Whisky kistenweise kommen lassen, man könnte Maschinen chartern und Flüge in die Türkei organisieren, mit ein wenig Kapital wäre das möglich, und im Sommer zur Ferienzeit könnte man sein Geld vervierfachen, wenn man soundso viel investiert, soundso viel für Unkosten veranschlagt und soundso viel Prozent als Gewinnspanne.
    Vielleicht hätte er Mathematiker werden können, denkt Gül, da sind dauernd Zahlen in seinem Kopf.
     
    Am Freitag ist Zahltag, und die Arbeiterinnen stehen an, um ihre Lohntüten zu erhalten. Die ganze Woche hat Gül sich nicht mehr verlaufen und ist jeden Morgen pünktlich zur Arbeit gekommen. Abends dröhnt ihr der Kopf vom Lärm der Maschinen, da helfen weder Klopapier noch die Baumwollstöpsel, die sie aus einer alten Unterhose Fuats gefertigt hat.
    Nach der Auszahlung stehen die Frauen noch da, zählen ihr Geld nochmals nach, reden.
    Vier weitere türkische Frauen arbeiten in dieser Halle, hat Nermin ihr erklärt.
    Mit diesen vieren vergleicht Gül nun ihren Lohn, und obwohl sie geglaubt hatte, sie würde am meisten Geld bekommen, weil sie die meisten BHs genäht hat, hat sie am wenigsten.
    Nun sind auch in ihrem Kopf Zahlen, sie versucht zu rechnen, |30| eine Erklärung dafür zu finden. Ich habe ja gerade

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