Heimstrasse 52
mitschleppen, haben sie gesagt, dort kannst du dir richtig gute Sachen kaufen.
Gül möchte ihre Wäsche in die Kommode räumen, doch als sie die Unordnung sieht, kippt sie die Schubladen einfach aufs Bett und fängt an zu sortieren. Als sie mit Kommode und Schrank fertig ist, geht sie in die Küche und zündet sich dort eine Zigarette an, eine Samsun, fast zwei Packungen hat sie unterwegs geraucht, und nach dieser bleibt ihr nur noch eine letzte Zigarette. Sie zieht die Füße auf den Hocker, lehnt den Rücken gegen die Wand, über der Spüle hängt ein kleiner Spiegel. Gül steht auf und sieht sich an. Sie sieht immer noch genauso aus wie in der Türkei, aber sie fühlt sich nicht so. |8| Ihr Gefühl geht über das Bild im Spiegel hinaus. Vielleicht kommt sie sich deswegen so fremd vor.
Als sie den Schlüssel in der Tür hört, ist sie schlagartig wach und weiß sofort, wo sie ist. Sie springt auf, begrüßt im Nachthemd ihren Mann und setzt in der Küche Teewasser auf. Fuats Augen sind klein und rot, beim Frühstück redet er nicht viel und nickt nur zu den Geschichten, die Gül von zu Hause erzählt. Nachdem er gegessen hat, nimmt er eine Flasche Whisky aus dem Kühlschrank und gießt sich dreifingerbreit in ein Wasserglas ein. Gül sieht ihn erstaunt an.
– Ja, so ist das, sagt er, Whisky, echter Whisky, wie in den Filmen, hier kann man nicht nur Geld verdienen, sondern man kann sich auch wirklich etwas kaufen dafür.
– Aber so früh am Morgen …
– Was denn? Ich war die ganze Nacht auf den Beinen, da kann ich mir doch zum Feierabend ein Gläschen gönnen.
Und wie zum Trotz schenkt er noch mal nach.
Schweigend nippt er an seinem Glas, während Gül spült. Sie ist immer noch im Nachthemd und war nicht mal auf der Toilette.
– Aah, entfährt Fuat nach dem letzten beherzten Schluck ein wohliger Seufzer. Komm, sagt er und geht vor ins Schlafzimmer.
Nachdem er eingeschlafen ist, spült Gül sein Glas, trocknet das Geschirr ab, setzt noch einen Tee auf, zündet sich ihre letzte Zigarette an und legt die Lektionen auf den Tisch, die sie in den vergangenen Wochen aus der Zeitung ausgeschnitten hat.
Mit diesen Zetteln hat sie gelernt, was Tür auf Deutsch heißt, Tag, Woche, Uhrzeit, Straße, Apfel, Haus, Schlüssel, Frühstück, Mittagessen, Bett, Stuhl, Tisch, Hose, Rock. Worte, die sie sich schlecht merken konnte und die ihr auch nicht weitergeholfen haben beim Zoll in Deutschland.
|9| Zu Hause hatten sie ihr gesagt, dass sie durch den Zoll muss, aber das Wort hatte selbst auf Türkisch fremd geklungen für Gül, es hatte sich in ihrem Kopf mit der Vorstellung von einem hell erleuchteten Gang verknüpft, in dem Männer in Uniformen stehen, schwere Pistolen an den Hüften.
Sie hatte sich nicht einen Mann mit schwarzem Schnauzer vorgestellt, der aus ihrer Manteltasche eine Packung Zigaretten holte, dann ihren Koffer auf einen Tisch legte, öffnete und etwas darin suchte. Er schien auch Fragen zu stellen, doch Gül hatte ihn nur schulterzuckend angesehen. Die Worte Tür, Haus, Tag, Woche, Apfel hätte sie vielleicht erkannt, aber sie erriet nur das Wort Zigarette, das so ähnlich klang wie im Türkischen.
Keins der Wörter, die Gül kannte, half ihr zu sagen: Ich habe nicht mehr Zigaretten. Das ist meine letzte Packung, die in der Manteltasche.
Dabei hätte es doch wohl gereicht,
nein, Zigarette
zu sagen, würde sie später erzählen.
Doch die Augen und die Realität halfen, wo die Sprache nicht reichte.
Gül wiederholt alle Lektionen aus den Zeitungen, dann schreibt sie einen Brief an ihren Vater und einen an ihre Schwiegermutter, trinkt noch einen Tee, raucht noch eine Zigarette, die sie aus Fuats Schachtel nimmt und die ganz anders schmeckt als gewohnt. Sie schaut aus dem Fenster, reinigt die beiden Kochplatten, räumt die Schränke leer und wischt sie von innen aus, bevor sie sie wieder einräumt. Sie raucht noch eine Zigarette und sieht ein wenig aus dem Fenster. Die Straßen wirken immer noch leer, aber so sauber, als würden sie stündlich gefegt.
Gegen zwei schon wacht Fuat an diesem Tag auf und will Frühstück. Gegen vier geht Gül gemeinsam mit ihm nach draußen, nach Deutschland.
|10| Gegenüber wohnen zwei griechische Männer, die stets in verschiedenen Schichten arbeiten und sich die Wohnung teilen, weil es billiger ist. Über ihnen wohnen ein griechisches Ehepaar und ein spanisches mit einem Kind. Im Erdgeschoss gibt es nur eine Wohnung, in der ein altes deutsches Paar
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