Heimstrasse 52
schenken.
Fast eine Stunde kam sie zu spät zur Arbeit, ihre Vorarbeiterin, eine kräftige, große Frau, die Gül ein wenig an ein Pferd erinnerte, schüttelte nur den Kopf und deutete auf eine freie Nähmaschine.
An diese setzte sich Sonja, so hieß die Vorarbeiterin, zunächst selbst und zeigte Gül, was zu tun war. Gül nickte und nahm kurz darauf Sonjas Platz ein.
Vorsichtig trat sie auf das Pedal, und die Nadel ratterte los. Die Maschinen, an denen Gül bisher gesessen hatte, waren mechanisch, man musste sie durch Treten in Gang halten.
Gül dachte daran, wie sie das erste Mal an einer Nähmaschine gesessen hatte. Dreizehn Jahre alt war sie da, sie hatte die Grundschule abgebrochen, und ihr Vater hatte sie als Gehilfin zu der Schneiderin Esra geschickt. Damals kam sie kaum an das Pedal mit ihren kurzen Beinen und hatte sich auch sonst anfangs nicht besonders geschickt angestellt.
Doch nach und nach hatte sie es gelernt, und hier kam ihr die Arbeit nach einigen Minuten, die sie brauchte, um sich an die Maschine zu gewöhnen, wie ein Kinderspiel vor.
Es war immer dasselbe, was sie tun musste, sie brauchte kaum nachzudenken, und schon nach einer Stunde verrichteten ihre Hände die Arbeit wie von alleine. Die Nadel lief immer gleichmäßig, sie musste nicht Hand- und Fußbewegungen koordinieren, wäre da nicht der Lärm von über hundert Maschinen gewesen, wäre da nicht noch immer dieser ungeklärte Traum, wäre da nicht die Scham darüber, zu spät gekommen zu sein, die Angst, den Rückweg möglicherweise nicht zu finden – es wäre fast schön gewesen.
In der Pause sah Gül, wie die anderen Arbeiterinnen sich etwas aus den Ohren holten. Toilettenpapier. Am besten wäre es, mit einer anderen Frau auf die Toilette zu gehen und sich auch welches zu besorgen. Alleine wollte sie nicht zu den |26| Klos, vielleicht würde sie den Rückweg in diese Halle nicht mehr finden oder verliefe sich bereits auf dem Weg dorthin.
Sie schaute sich um, doch keine der anderen Frauen sah aus wie eine Türkin. Die da vorne könnte eine Spanierin sein oder Italienerin, die dort hinten ist sicherlich eine Griechin. Die da auch. Und noch einige andere Gesichter fielen Gül auf. Komisch, dachte sie, wie schnell ich gelernt habe, die Deutschen und Nicht-Deutschen auseinanderzuhalten. Wenn es nur ein paar Türken mehr gäbe.
Sonja kam auf Gül zu, die etwas hölzern auf dem Gang stand und verunsichert wirkte. Sie legte Gül eine Hand auf die Schulter und sagte etwas, das Gül nicht verstand, doch sie lächelte, also lächelte Gül einfach auch.
– Tuvalet?, fragte Gül.
Gerade weil das deutsche Wort sehr ähnlich ist, konnte Gül es sich einfach nicht merken. Das Wort war schon aus ihrem Mund, als sie es bereute. Sie musste ja auch noch zurückfinden.
– Komm, sagte Sonja.
Als sie im Vorraum der Toilette standen, konnte man von Sonja zwei Geräusche gleichzeitig hören, ein leises Aaah aus ihrem Mund und einen lauten Pup aus ihrem Darm.
Gül sah sie erschrocken an. Sie hatte noch nie gehört, dass ein Erwachsener so ungehemmt furzte. Das gehörte zu Dingen, die man einfach nicht machte. Man schlug nicht die Beine übereinander im Beisein von Älteren, man rauchte nicht vor ihnen, Teller und Schüsseln, die man von Nachbarn oder Freunden geborgt hatte, gab man nicht leer zurück, Frauen fluchten nicht, zumindest nicht in Männergesellschaft, man ging nicht halbnackt auf die Straße, und man ließ nicht öffentlich einen fahren.
Sonja lachte, als sie sah, was für ein Gesicht Gül machte.
– Luft, sagte sie und schlug sich auf den Unterbauch, es ist nur Luft, und die muss raus.
|27| Gül beeilte sich auf der Toilette, damit sie noch vor Sonja fertig war. Sie riss zwei Blätter Klopapier ab und steckte sie sich in die Tasche.
Mit dem rauen Papier in den Ohren war der Lärm besser zu ertragen, und Gül arbeitete, dachte an Fürze, dieses fremde Land hier, an Ceren, an den Heimweg, wie viel Geld Fuat am Wochenende wohl beim Kartenspiel verloren hatte, was sie hier verdienen würde, ob es in dieser riesigen Fabrik wohl auch Razzien gab und wo man sie dann verstecken würde.
Immer wieder kam Sonja vorbei, schaute Gül kurz über die Schulter, nickte und nahm die fertigen Büstenhalter mit. Als Feierabend war, winkte sie Gül zu sich, und Gül erkannte die Übersetzerin mit dem Istanbuler Akzent neben der Vorarbeiterin.
O weh, dachte Gül, sie sind nicht zufrieden mit mir. Ich bin ja auch gleich am ersten Tag zu spät
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